: Kran hinter der Böschung
Die Yorckbrücken sind Wegmarken der Westberliner Stadtlandschaft. Ab Sonntag beginnen dort zweijährige Sanierungsarbeiten
von KIRSTEN KÜPPERS
Das West-Berlin der 80er-Jahre hatte Schick. Nicht die Eleganz von Eiffeltürmen für Baedeker-Touristen. Sondern den viel besseren Glamour von Novembergroßstadt. West-Berlin zeigte sich billig, radikal und melancholisch. Nick Cave, David Bowie und Inga Humpe galten als Helden. Und auch der Bezirk Schöneberg war noch wichtig für die Jugend. Das „Café M“ kannten selbst westdeutsche Schulklassen als Postadresse von Blixa Bargeld. Andere Lieblingslokale hießen „Ex & Pop“ und „Risiko“. Das schöne Eingangstor in diese Welt bildete die Kolonne der bei detaillierter Zählung 30 Brücken über die Yorckstraße.
Wer die daraufgepinselten weißen Buchstaben als „KEINE RINDERZUCHT AUF REGENWALDBÖDEN! BOYKOTTIERT MC BURGER!!“, „REAGEN PUTT, REAGAN GUTT“ oder „ALLET ROTSCHER“ entzifferte, wusste, dass er hier richtig war. Auch die Brücken und die sie umgebende Brache selbst taugten als Ausflugsort. Von oben guckten Hobby-Revolutionäre und Haschrebellen bei verliebten Spaziergängen längs der stillgelegten Gleise auf die vorbeischnellenden Autolichter. In verlassenen Bahnwärterhäusschen fand man liegengelassene Super-acht-Pornofilme. Im Herbst sammelten Anwohner Ofenholz. Endstation der Brückenaussicht war der Schöneberger Sozialpalast.
Noch immer sind die Yorckbrücken Wegmarken der Westberliner Stadtlandschaft. Die inzwischen unmodernen Sprüche grüßen blass geworden, aber hartnäckig weiter. Die dünnen Birkenbäumchen zwischen den alten Gleisen sind hochgeschossen. Der Verkehr rauscht ungebremst unter den verrosteten Stahlträgern hinweg.
Trotzdem wirken die Brücken irgendwie ramponiert von den neuen Zeiten. An den Klinkerwänden der Durchfahrt werben die Brüder Gottschalk für die Postaktie. Die neuere Generation der Brücken-Graffiti sind silberne Buchstabenkürzel – für Außenstehende unverständlich. Das Karibikblau der Dia-Vortrag-Poster, die an den S-Bahn-Eingängen hängen, ist angeschmutzt. Anderswo ist jetzt mehr los als in Schöneberg.
Die Zukunft der Yorckbrückenkolonnade lauert indes neben der Dönerbude „Wunderlampe“: Hinter der Böschung stehen Betonschalen und ein Kran. Ab diesem Wochenende ist an den Yorckbrücken Baustelle. Zwei Jahre lang, schätzt Dieter Borcherding, der zuständige Projektleiter der Planungsgesellschaft Verkehrsbau der Deutschen Bahn AG.
Schon am Sonntag wird ein Schwerlastkran eine der alten Brücken herausheben. Die Deutsche Bahn ersetzt die weit über 200 Tonnen wiegende Überführung durch vier neue Gleise für die künftig durchgängige ICE-Strecke von Norden nach Süden. Reisende aus Hamburg und Rostock müssen dann nicht mehr umsteigen, wenn sie nach Dresden und Leipzig fahren. Das Projekt kostet 20 Millionen Mark.
Nach der Fertigstellung wird erstmals seit den 50er-Jahren wieder Fernverkehr über die Yorckstraße fahren. Ursprünglich sind die Brücken zu diesem Zweck gebaut worden. Mit seinen über 30 Schienensträngen diente der Komplex seit Ende des 19. Jahrhunderts als Verschiebemöglichkeit für den Anhalter Kopfbahnhof.
Nach Kriegsende betrieben allerdings gemäß Vier-Mächte-Abkommen die Deutsche Reichsbahn und die DDR die Berliner Eisenbahnanlagen, auch im Westteil der Stadt. Sie unterbrachen in den 50er-Jahren den Personenverkehr nach Dresden und Halle. Seither rollten nur noch Güterzüge über einzelne Yorckbrückengleise.
Immerhin übernahm der West-Berliner Senat Mitte der 80er-Jahre die S-Bahn auf Westberliner Gebiet und reaktivierte einzelne Linien auch über die Yorckstraße: Inzwischen fahren hier die S 1, S 2 und S 25. Die meisten Brücken sind jedoch weiterhin nicht in Betrieb und wuchern mit Grobstadtwildnis zu.
Das wird sich so schnell auch nicht ändern. Auch wenn die neuen ICE-Gleise fertig sind, wird man wohl noch auf einer alten Yorckbrücke lesen können: „MORINI ICK LIEBE DIR FÜR SEMPRE“, darunter darf ein altes Graffito unverdrossen weiter behaupten, dass sich hier die „BESETZERZENTRALE“ befindet. Denn die Yorckbrücken stehen unter Denkmalschutz. Und für eine Renovierung der gesamten Anlage ist kein Geld da, sagt Projektleiter Borcherding.
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