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Nahsicht auf Franco-Gegner und -Profiteure

■ Rafael Chirbes' „Der Fall von Madrid“ schildert die Nacht von Francos Tod

Deutschland 1975. Die Anti-AKW-Bewegung bereitet sich auf große Demonstrationen vor. Gegen fortbestehende Herrschaftsstrukturen der Nazi-Vergangenheit kämpft die Rote Armee Fraktion im Untergrund. In Spanien sieht es derweil anders aus: Dort wartet man am 19. November des Jahres auf den Tod des faschistischen Diktators Franco. Rafael Chirbes erzählt in seinem fünften Roman die Geschichte dieses Tages. Wie auch in seinen anderen Büchern widmet er sich Spaniens düsterer Vergangenheit – dem Franco-Regime.

Der Fall von Madrid beschreibt detailgenau die Ängste der ProfiteurInnen des Regimes. Der Möbelfabrikant Don Jose Ricart zum Beispiel, der mit seiner geistig verwirrten Frau in einem kleinen Chalet lebt. Seit einem Brandanschlag auf sein Unternehmen, in dem er Zwangsarbeiter beschäftigt, und dem ersten Streik in seiner Firma fühlt der Patriarch sich jäh aus einem bequemen Leben gerissen. Und dennoch ist er stolz auf seinen Enkel, der das Franco-Regime aktiv bekämpft.

Den Befürchtungen der Regimetreuen stellt Chirbes die Hoffnungen der Franco-Gegner gegenüber. Olga etwa, die Schwiegertochter des Familienoberhauptes, hofft auf eine Freiheit der Kunst. Hauptberuflich mit Spiegel-Polieren und Silberputzen beschäftigt. Und das gar nicht mal widerwillig – auf ihre perfekten kalten Platten mit Aspikhäppchen und hauchdünnem Landschweinschinken ist sie regelrecht stolz. Die reicht sie auf ihren Hausparties am liebsten radikalen Malerinnen, denn Olgas Leidenschaft ist die avantgardistische Kunst. Diese Liebe für Außergewöhnliches hebt sie aus der Masse ihrer handarbei-tenden Freundinnen heraus, als sei sie ihrer Zeit weit voraus.

Olgas Sohn Quini ist Student und Teil der antifaschistischen Bewegung. Als solcher wirft er tagsüber Steine auf die Guardias, nimmt aber abends brav an der Geburtstagsfeier seines Großvaters teil. Lucio ist Arbeiter und Aktivist. Nachts wartet er Metrogleise, bis er wegen eines Bombenanschlags gesucht wird und nicht mehr zur Arbeit gehen kann.

Chirbes gibt den LeserInnen Zeit, in seine Figuren einzutauchen. Fast unerträglich genau beschreibt er das brutale Liebesleben des Geheimpolizisten Maximo Arroyo. Der tut seiner Ehefrau im Bett regelmäßig Gewalt an, und stillt darüber hinaus seine sexuelle Lust bei einer Prostituierten.

Chirbes Roman ist aufwühlend, weil er nicht in der Darstellung von Klischees verhaftet ist, sondern die Figuren in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit zeigt. Unfähig, den Stoff beiseite zu legen, ist der Leser deshalb ständig mit der Frage „gut oder böse?“ konfrontiert, und muss am Ende natürlich alleine entscheiden. Weil Chirbes auch dunkle Charaktere differenziert darstellt, werden deren Handlungen nachvollziehbarer, schuldig sind sie aber trotzdem. Susie Reinhardt

Lesung (Tilman Sprengler moderiert und liest den deutschen Text) heute, 20 Uhr, Literaturhaus; Rafael Chirbes: Der Fall von Madrid, Kunstmann Verlag 2000, 304 S., 39,80 Mark

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