: Haschisch im Salon
Ludwig Pietsch galt vor 130 Jahren als Deutschlands bester Feuilletonist. Seine neu aufgelegten Notizen geben Einblick in das Leben der Berliner Gesellschaft zwischen 1848er Revolution und Reichsgründung
von TILLMAN BENDIKOWSKI
Vielleicht wäre es mit dem Sozialismus in Deutschland ja doch noch was geworden, wenn Ferdinand Lassalle an diesem kalten Winterabend des Jahres 1858 nicht seine Kumpels zum Kiffen eingeladen hätte. Statt diese Stunden politisch sinnvoll zu nutzen, also eigene Positionen rasch zu überdenken oder sich doch noch kurzerhand mit Marx zu verständigen, nahm sich Lassalle die Zeit, bei einem seiner gepflegten Herrenabende seinen bürgerlichen Freunden ein besonders guter Gastgeber zu sein: Diesmal bot er ihnen in langen türkischen Pfeiffen exzellentes Haschisch an, das ein befreundeter Ägyptologe soeben von einer ausgedehnten Forschungsreise mitgebracht hatte.
Der anschließende bunte Abend wurde für die Nachwelt akribisch dokumentiert, da an ihm auch Ludwig Pietsch teilnahm. Dieser schickte sich zu dieser Zeit an, von einem ambitionierten Zeichner zum führenden Kunstkritiker und Feuilletonisten Berlins aufzusteigen. In seinen autobiografischen Aufzeichnungen, die erstmals Ende des 19. Jahrhundert erschienen und jetzt vom Berliner Aufbau-Verlag neu aufgelegt wurden, hat er seine Erlebnisse mit der „Berliner Gesellschaft“ aus den 1850er- und 1860er-Jahren zusammengetragen. Zu diesen zählte auch besagter Abend bei Lassalle – doch dazu später.
Ludwig Pietsch, geboren 1824 in Danzig, wollte eigentlich immer Maler werden. Zum Glück verhinderte dies das Schicksal. Nicht, dass er mit der Zeichenfeder zu sehr dilettiert hätte – immerhin gelang es ihm mit seinen Illustrationen für Zeitungen und Bücher, sich aus ärmlichen Verhältnissen allmählich in ein gepflegtes künstlerisches Leben hochzuarbeiten. Doch es wäre den Zeitgenossen ein glänzender Berichterstatter über das kulturelle Geschehen ihrer Zeit und den nachgeborenen Lesern ein begabter Erzähler verloren gegangen.
In erster Linie bieten seine Erinnerungen einen Einblick in das, was man heute die „Künstlerszene“ Berlins nennen würde. Nach und nach lernte Pietsch Stars und Sternchen seiner Zeit kennen. Zu den merkwürdigsten zählte er den noch unbekannten Gottfried Keller, ein kleiner Zeitgenosse, der nicht nur ständig „sehr unverhohlen seine Meinung äußerte, sondern auch immer bereit war, ihr mit seinen kräftigen Fäusten mehr Nachdruck zu geben“.
Pietsch entdeckte für sich hingegen das Wort als Waffe, zunächst als Berichterstatter für kleinere Blätter, endlich für die bekannte Vossische Zeitung. Hier konnte er die „in mir schlummernde feuilletonistisch-humoristisch-deskriptiv-schriftstellerische Begabung“ endlich ausleben. Themen und Anlässe fand er reichlich, dabei halfen ihm seine Freundschaften, mit Theodor Storm etwa, mit Iwan Turgenjew oder der Sängerin Pauline Viardot.
So kommen in diesen Erinnerungen Geschichten und Anekdoten zusammen, die auch abseits jeden kunsthistorischen Interesses bewahrenswert sind. Viele von ihnen muten seltsam aktuell an. Zum Beispiel die Geschichte von einem geplanten Denkmal in Berlin: Friedrich Schiller zu Ehren sollte es entstehen, doch nach dem Wettbewerb entbrannte heftiger Streit um das Kunstwerk, an dem Berufene wie weniger Berufene gleichermaßen beherzt teilnahmen. Der Wettbewerb musste schließlich erneut ausgeschrieben werden, ehe er endlich Erfolg hatte.
Vom familiären Leben berichtet Pietsch wenig – etwa über die Existenz der insgesamt sechs Kinder sowie der dazu gehörenden Ehefrau. Diese musste sich um alles kümmern, denn der Herr des Hauses hatte Besseres zu tun: etwa für drei Monate nach Paris zu gehen und die große weite Künstlerwelt zu genießen, an der Eröffnung der Berliner Universität teilzunehmen (beim dessen Schlussakt sich viertausend Menschen bei Freibier höllisch besoffen) oder als (heute würde man sagen:) „Klatschreporter“ auf hohem Niveau die Bälle der Berliner Gesellschaft zu besuchen und darüber zu schreiben – dabei hatten es ihm vor allem die Damen angetan.
Zuhauf findet sich Allzumenschliches in diesen Schilderungen. So erfahren wir unter anderem, dass die Berliner Gesellschaft in der ersten Hälfte der Fünfzigerjahre von einer spiritistischen Welle erfasst wurde, fasziniert vom Wunder der „drehenden Tische“. „Überall wurden diese Experimente veranstaltet, und nach der Versicherung der Teilnehmer gelangen sie meist glänzend. In allen Häusern drehten sich, tanzten und klopften die schwersten Tische unter den zu der wunderwirkenden Kette vereinigten Händen begnadeter Medien.“ Seinen Spaß mit diesem Wunderglauben hatte auch Ferdinand Lassalle, der wiederholt „magnetische Soireen“ veranstaltete. Dabei inszenierte er den Hokuspokus mit seinen angeblich magnetischen und hypnotischen Kräften so geschickt, dass ihm niemand auf die Schliche kam.
Ganz ernst war es Lassalle hingegen mit der Vision seiner eigenen Zukunft. Er war sich sicher, dass ihm die Frucht des Sieges der sozialen Revolution zufallen müsse und er als „Präsident der Republik“, wohlgemerkt mit „acht Schimmeln vor dem Triumphwagen“, durch das Brandenburger Tor einziehen werde.
Womit wir wieder bei den Hirngespinsten jenes kalten Wintertages im Jahre 1858 wären. Die Herren der lassalleschen Gesellschaft reagierten höchst unterschiedlich auf das dargebotene Haschisch. Der Pianist und Komponist Hans von Bülow geriet in „poetisch-musikalische Verzückung“, doch weil er unvorsichtigerweise kurz zuvor üppig gegessen hatte, trat bei ihm „nur zu bald schon ein sehr prosaischer Sturz aus seinen Himmeln ein“. Der Schriftsteller Ernst Dohm wurde zunächst albern, ehe sich der Kladderadatsch-Redakteur in eine Eule verwandelt fand, die in einer Postkutsche unterwegs war. Ludwig Pietsch selbst empfand, bis ihn der vermeintliche Verlust beider Füße verständlicherweise schwermütig stimmte, „ein süßes, wohliges Behagen, ein Gelöstsein aller Glieder“.
Einen Taumel ganz anderer Natur erlebte Pietsch angesichts des kriegerischen Auftakts zur deutschen Reichsgründung von 1871. Er, der nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 die preußische Reaktion und die „peinigenden Chicanen der Polizei“ beklagt hatte, bejubelte wie der Großteil des gebildeten Deutschlands die kommende Einheit, die dem Volk allerdings die anvisierte Freiheit vorenthielt. In nationalen Taumel war Berlin schon beim Krieg gegen Dänemark 1864 geraten. Tausende zogen damals zum Sitz des preußischen Ministerpräsidenten und stimmten Jubelgesänge an; aus dem einst vor allem von Liberalen „bestgehassten“ Bismarck war „mit einem Schlage der am glühendsten Verehrte und Bewunderte geworden“.
Mit der nächsten nationalen Taumelei, aus Anlass des Sieges gegen Österreich 1866, enden diese Erinnerungen. Sie dokumentieren zwei Jahrzehnte deutschen – und maßgeblich: Berliner – Lebens, zuvörderst das kulturelle Geschehen; sie sind zugleich als Autobiografie eine ergiebige Quelle für die Geschichte politischer Ereignisse und Mentalitäten. Dem Verlag gebührt Lob, dieses vergnügliche und höchst lesenswerte Werk in einer schönen Ausgabe erneut aufgelegt zu haben. Ein Nachwort gibt übrigens Auskunft darüber, wie es mit Ludwig Pietsch weiterging. Längst war er eine Berühmtheit geworden (Turgenjew nannte ihn „Deutschlands ersten Feuilletonisten“), er avancierte 1869 zum Auslandsreporter, reiste nach Athen und Konstantinopel und nahm sogar an der Eröffnung des Suez-Kanals teil. Das wurde allerdings nicht sein stärkster Auftritt, denn beim Ausschiffen vor Suez fiel der Starkritiker ins Meer und wurde nur mit knapper Not gerettet.
Manche alten Freunde hatte Pietsch, der bis 1911 lebte, zu diesem Zeitpunkt allerdings verloren. Ferdinand Lassalle etwa fand 1864 durch ein Duell ein jähes Ende. An jenem eingangs geschilderten Wintertag des Jahres 1858 hatte sich Lassalle übrigens selbst des orientalischen Narkotikums enthalten. „Er wollte den Kopf freihalten“, berichtet Ludwig Pietsch, „um die Vorgänge zu beobachten und zu studieren.“ Was es genutzt hat, wissen wir nicht. Mit dem Sozialismus in Deutschland ist es jedenfalls bekanntermaßen nie so richtig was geworden.
Ludwig Pietsch: „Wie ich Schriftsteller geworden bin. Der wunderliche Roman meines Lebens“, herausgegeben von Peter Goldammer, Aufbau-Verlag, Berlin 2000, 670 Seiten, 79,90 DMTillmann Bendikowski, 35, lebt als Historiker und Journalist in Bochum
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen