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Sein Feld ist die Welt

42-mal hat der Kapitän Reinhold Kasten die Welt umsegelt, vier Schiffs-untergänge überlebt. Ein Besuch auf seinem Museumsschiff in Lübeck

Kannibalenkeulen von den Fidjiinseln, ein Trinkgefäß aus Elefantenhoden„Wenn es einen Himmel auf Erden gibt, dann ist es für mich die Südsee“

von EDITH KRESTA (Text)und STEFAN FALKE (Fotos)

„Zu jedem Stück gibt es eine Geschichte“, brummt der unscheinbar wirkende Mann, der uns auf dem Museumsschiff „Mississippi“ empfängt, etwas unvermittelt nach einem kurzen „guten Tag“. Reinhold Kasten, 80 Jahre, Seemann und Kapitän, ist sein eigener Museumswärter. Seine immer noch blonde Frau und Mitabenteurerin seit 53 Jahren, Mady Kasten, verkauft Eintrittskarten am Eingang. In großen Vitrinen werden dort Haifischzähne, Muscheln und Seesterne zum Kauf angeboten. Der Kapitän führt uns in seine Ausstellung. Um ungläubigen Fragen weltunerprobter Stubenhocker von vornherein Einhalt zu gebieten, sagt er uns gleich, mit wem wir es zu tun haben: „Sie sprechen mit einem Mann, der etwas erlebt hat, was es heute nicht mehr gibt.“

Die „Mississippi“, ein Ostseedampfer Baujahr 1909, liegt vor der Kulisse des Lübecker Holstentors an der Untertrave. Das Schiff fällt nicht weiter auf und ist trotz Hinweisschild erst auf den zweiten Blick zu finden. Auch die Tafel, die auf dem Gehsteig für die „Naturhistorische Übersee-Ausstellung“ wirbt, wirkt im Multimediazeitalter äußerst schlicht. Sie erinnert an Jahrmarktswerbung. Und in der Tat birgt der Ostseedampfer einen Jahrmarkt der Sensationen: Reinhold Kastens exotische Raritäten aus aller Welt.

Im dumpfen Dämmerlicht des Zwischendecks zeigt Kasten auf einen speckigen Tropenhelm: ein Geschenk des Urwaldarztes Albert Schweitzer. „Das war damals auf einer Expedition zum Kongo“, erzählt er. „In Lambarene lernte ich Albert Schweitzer kennen.“ Neben dem Helm eine Großaufnahme des Urwalddoktors in Schwarzweiß, ringsum überbordende Schätze aus aller Welt, von der balinesischen Tempelsäule bis zur handgeschnitzten Zauberflöte aus Neuguinea. Das Auge schweift von Besonderheit zu Besonderheit.

Von Albert Schweitzer bekam Kasten auch das ausgestopfte „kleinste Flusspferd der Welt“ geschenkt. Es steht im Unterdeck der „Mississippi“ zwischen einer unübersichtlichen Anhäufung weiterer Schätze: Da gibt es Kopfjägermasken aus Sumatra, ein Bild des kleinsten Manns der Welt, eines von einem Mann mit drei Beinen, eine „indische Fensterklappe aus einem Harem“, einen „echten Schrumpfkopf aus dem Amazonas“, „alte indonesische, nordafrikanische, pakistanische Kriegerwaffen“. Aus Peking die lachende Buddhafigur, aus dem Kongo das Bild mit dem verträumten Eingeborenenmädchen, Kannibalenkeulen von den Fidjiinseln, geschnitzte Menschenknochen, ein altindisches Trinkgefäß aus Elefantenhoden.

All diese exotischen Besonderheiten überragt der ausgestopfte King Kong, der größte und bekannteste Gorilla der Welt. Vor 38 Jahren erlitt er in Florida, wo die Kastens halbjährlich wohnen, einen Herzschlag. Tarzan-Darsteller Johnny Weissmüller, ein Freund der Kastens, vermachte King Kongs Hülle den tierlieben Weltenbummlern. Als freundschaftlichen Dank, denn Weissmüllers Drehpartnerin, die Äffin Citta, war immerhin von den Kastens großgezogen worden. „Die habe ich bei einer Expedition gefunden, da lief sie mutterseelenallein im Busch herum. Wir haben sie kurzerhand mitgenommen“, kommentiert der Kapitän. Exotische Tiere aus allen Erdteilen, die den Kastens irgendwann, irgendwie zugelaufen sind und um die sich garantiert eine Geschichte rankt, sind nun wahllos nebeneinander gereiht: fliegende Affen aus Sumatra, natürlich ausgestopft, heilige Tempelschlangen von Penang Island, jede Menge Fossilien, das Gebiss eines selbst erlegten Menschenfresserhais. Wen wundert es da, dass auch Deutschlands telegener Zoologe, Professor Grzimek, ein Freund des Ehepaars war. Auch er schmückt auf einem Schwarzweißfoto die Promintengalerie der Kastens. Mit dabei: die französischen Forscher Jacques Picard und Jacques Cousteau. Mit beiden war der Seeabenteurer auf Expedition.

„Zu den letzten Abenteurern dieser Welt gehören wir. Während 56 Jahren machte ich 42 Weltumseglungen und Weltreisen auf verschiedenen Schiffen“, prangt groß auf einer Tafel im Zwischendeck. 20-mal um Kap Hoorn, 45-mal durch den Panama- und 42-mal durch den Suezkanal, 24-mal durch das berüchtigte Bermudadreieck, 4 Schiffsuntergänge – der schlimmste soll der mit der zugenagelten Eichenkiste, die im Unterdeck steht, gewesen sein. „Tagelang“, so Kasten, „trieb ich mit dieser mutterseelenallein im Südchinesischen Meer, abgemagert bis auf die Knochen, rund herum gefräßige Haifische.“

Kasten überlebte als Einziger. „Dies waren harte, abenteuerliche, romantische Seefahrten“ steht als weiterer biografischer Hinweis an der Wand. „Hier waren wir noch eiserne Seeleute auf hölzernen Schiffen. Heute gibt es viele hölzerne Seeleute auf eisernen Schiffen.“ Die Seefahrerleute heute seien doch Industriemenschen, erläutert Kasten beim Gang zum Tropendeck. „Die leiden darunter, dass sie nicht mehr an Land kommen. Sie waren überall, und trotzdem waren sie nirgends. Wir lagen nach einem Taifun einmal bis zu fünf Wochen im Hafen, drei bis vier Tage waren es immer. Das ist Seefahrt für mich. Sonst ist die Seefahrt doch uninteressant. Nur Himmel, Meer und die Schaukelei, ist das nicht furchtbar?“

Die Kastens hatten immer Kontakt zu Land und Leuten. „Es gibt eine Insel in der schönen Südsee“, steht bei einem großen Foto mit lachenden und tanzenden Südseeinsulanerinnen, „da legen verschiedene Eingeborenenstämme die Arbeit nieder und jubeln uns zu.“ Freundschaft in den besuchten Ländern haben sich die Kastens bewusst aufgebaut. „Freundschaftliche Beziehungen, das ist ganz wichtig“, sagt der Sammler aus Passion, „sonst wären wir gar nicht zu diesen Sammlerstücken gekommen.“ Reinhold Kasten ist stolz darauf, dass er für seine Raritäten keinen Pfennig bezahlt hat: „Alles getauscht. Ich habe viele Urvölker ausgerüstet mit Industriegütern, Werkzeugen, Hammer und Meißel.“ Von Kindern am Amazonas hat er einen jungen Jaguar geschenkt bekommen und aufgezogen. Der rettete ihn vor den Piraten: „Wie wir dann im Südchinesischen Meer waren, da klopfte es an der Bordwand. Seepiraten. Ich ließ den Jaguar auf die Reling. Das schlug sie in die Flucht.“

Reinhold Kasten kann stundenlang erzählen, wenn er will. Ein großformatiges Foto der Ausstellung zeigt, „wie Käpitän Reinhold Kasten auf einer Südseeinsel von den Urvölkern als Ehrenhäuptling gefeiert wird“. Der Kapitän mit nacktem Oberkörper, überall tätowiert. „Wenn ich gewusst hätte, was heute für Leute damit rumlaufen, dann hätte ich das nicht machen lassen“, kommentiert er das Bild. „Früher haben sich Seeleute tätowieren lassen. In der Südsee sind vor allem Häuptlinge tätowiert. Tätowierungen gehören zu meinem Leben.“ In seinen rechten Unterarm ist sein Lebensmotto eingraviert: „Mein Feld ist die Welt.“

Kennt er so etwas wie Heimatgefühle? „Wo es schön ist, fühle ich mich zu Hause. Aber wenn es einen Himmel auf Erden gibt, dann ist es für mich die Südsee“, gesteht er. Der Südseehäuptling Sulumu von den Samoainseln schenkte dem Ehepaar eine kleine, palmenbewachsene Insel, die sie nach dem Namen der Frau, Mady-Insel, tauften. Dort will Reinhold Kasten einmal begraben werden.

Mady Kasten hat inzwischen, neben Karten- und Nippesverkauf, gekocht. Vorbei an vier kläffenden Chihuahuas, natürlich Mibringsel aus Asien, und seiner schon ungeduldig wartenden Frau führt uns Reinhold Kasten trotzdem noch ins Schiffsallerheiligste: den Kapitänssalon. Auch er überladen mit geschnitzten Möbeln, Seidenteppichen, Skulpturen aus Afrika, chinesischen Vasen. Ein Riesenbuddha sitzt vor der Hausbar, die mit dem Gebiss eines Sägehais verziert ist. Im Herbst, erzählt der Seemann und lässt sich in einem tiefen Sessel nieder, breche er von Rotterdam zu seiner letzten Weltumseglung auf: Neuguinea, Australien, Südsee. Er fahre als Ehrenkapitän auf einem Viermaster mit: „Weil ich ja viele Freunde in der Welt habe, viele Beziehungen, das schmückt dann die ganze Seefahrt.“ Und nachdenklich fügt er hinzu: „Langeweile habe ich nie. Wenn ich manchmal in meinem Sessel hier sitze, kann ich, wenn ich will, wieder in Südamerika sein, oder ich kann einen Schiffsuntergang erleben. Und ab und zu wache ich auf und frage mich, ob ich noch auf diesem Planeten weile. Und dann bin ich immer froh, dass ich noch da bin.“

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