: „In Russland herrscht noch immer die totale Lüge“
■ Hannah-Arendt-Preis für Menschenrechtlerin Jelena Bonner / Diese prangert die undemokratischen Verhältnisse in ihrer Heimat an / Eine Zusammenfassung ihrer Rede
„Ich spreche nur von mir, weil ich keine Ausnahme bin.“ Jelena Bonner, russische Menschenrechtlerin und seit diesem Wochenende Trägerin des Hannah-Arendt-Preises für politisches Denken sprach in aller Bescheidenheit. Und in aller Deutlichkeit. Vor gut 150 Menschen, in der Hauptsache Russen, referierte die 77-Jährige am Abend vor der Preisverleihung über den Zustand des russischen Staates. Titel: Lüge und Wahrheit in posttotalitären Gesellschaften.
Jelena Bonner, Witwe des 1989 verstorbenen Bürgerrechtlers Andreij Sacharow, erhielt den Preis der Heinrich-Böll-Stiftung unter anderem für ihre „besondere Sensibilität für totalitäre Züge in halbdemokratischen Strukturen“. Und genau dies stellte sie mit ihrem Vortrag unter Beweis.
„Ich habe an der Schule und an der Universität die Pflichtkurse in Marxismus-Leninismus und andere Fächer der politischen Ökonomie belegt. Ich habe mich nie gefragt, ob daran ein Fünkchen Wahrheit ist.“ Es schwingt viel Selbstkritik mit in den Worten Jelena Bonners, die sich „erst“ von 1968 an, nach dem Einmarsch der Sowjettruppen in die Tschechoslowakei, für die Menschen- und Bürgerrechte engagierte. Hier lernte sie ihren späteren Ehemann Sacharow kennen: „Er war ein Mensch mit einer Weltanschauung“, sagt sie über ihn. Viele hätten damals eine Ideologie gehabt, nur wenige eine Weltanschauung.
Hat es deshalb in der Sowjetunion nie eine Studentenbewegung wie im Westen gegeben? „Es war die Angst. Als hätte sie sich vererbt, blieb sie noch lange nach Stalin am Leben.“ Jelena Bonners Eltern wurden 1937 inhaftiert, ihr Vater wurde ein Jahr später ermordet. Aber nicht nur die Angst erwies sich als haltbar. Mit ihr überlebte die Lüge. „Und die größte Lüge ist, dass Russland ein demokratischer Staat ist. Wir leben noch heute in einem Staat der totalen Lüge.“
Jelena Bonner prangert die Verfassungsverletzungen des jetzigen Präsidenten Vladimir Putin an, sie spricht über ungesetzliche Verhaftungen, über „die Beschädigung des Instrumentes der Wahlen“ und die autoritäre Neuordnung des Staatsapparates, über Tschernobyl und die Kursk. Sie spricht am meis-ten über die beiden tschetschenischen Kriege, „die größte Schande Russlands“.
„Der erste Krieg wurde geführt unter dem Namen der Wiederherstellung der Verfassungsordnung.“ Jelzin habe damit sein Image verbessert und „Freund Helmut und Freund Bill taten mindestens so, als glaubten sie die Lüge.“ Der zweite, Putins Tschetschenien-Krieg, wurde geführt unter dem Namen des „Kampfes gegen den internationalen Terrorismus“. Bonner vergleicht die angeblich von tschetschenischen Rebellen verursachten Explosionen in Moskau mit dem Reichstagsbrand, der den Nazis den Vorwand zur Aufrüstung gab. „Die Lüge ist ansteckend wie die Pest“, sagt sie. Sie spricht nicht davon, aber sicherlich meint die Friedensaktivistin damit auch die enttäuschenden Erfahrungen mit den russischen Intellektuellen, die sich von der „Terrorismus-Lüge“ haben anstecken lassen. Jelena Bonner war und ist eine der wenigen, die die Vernichtung Grosnys und seiner Einwohner einen Genozid, einen Völkermord im Interesse der Großmacht Russland nennt. Die Dinge bei ihrem Namen nennen, das ist Jelena Bonners Auftrag, und das war der Auftrag ihres Mannes, dessen Schriften sie herausgibt.
Sacharow war Physiker, wie viele Dissidenten. „In den konkreten Berufen, bei den Biologen, den Mathematikern, den Ingenieuren gab es mehr Widerstand gegen die Lüge.“ Und: Die Dissidenten hätten Selbstachtung, Voraussetzung der Demokratie, gehabt. „Deswegen waren sie auch in der Lage, Glück zu empfinden.“ Das Glück aber sei „seit seinem Tod nicht mehr geworden.“
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Jelena Bonner erhielt den Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken am Samstag im Bremer Rathaus aus der Hand von Bürgermeister Henning Scherf (SPD). Die vom Bremer Senat und der Heinrich-Böll-Stiftung finanzierte Auszeichnung ist mit 15.000 Mark dotiert. Der Hannah-Arendt-Preis wurde 1994 von Publizisten, Politikern und Wissenschaftlern in Bremen ins Leben gerufen. Er soll an die deutsch-jüdische Denkerin erinnern, die 1933 aus Deutschland fliehen musste und zu den prägenden Persönlichkeiten dieses Jahrhunderts zählt. Hannah Arendt starb im Alter von 69 Jahren im Dezember 1975 in New York.
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