: Der Krieg der Apotheker
Center-Apotheke, nun Pressezentrum. Besitzer: die Eltern des toten Joseph. Hirsch-Apotheke, nun polizeibewacht. Besitzer: Vater einer Tatverdächtigen
aus Sebnitz HEIKE HAARHOFF
Im Grunde kann er seine Apotheke dichtmachen. Draußen vor den Schaufenstern mit Hustenbonbons, Rheuma- und Migränemitteln schieben Polizei und Kamerateams Wache, so militärisch und einsilbig und finsteren Blickes, als wäre das hier keine Kleinstadt-Apotheke, sondern eine Kommandozentrale. Als herrschte mitten in Sebnitz, einer 10.000-Einwohner-Stadt in der ostsächsischen Schweiz, immer noch Kalter Krieg zwischen Ost und West.
In gewisser Weise stimmt das. Hier oben am Hang, rund um die Hirsch-Apotheke, so viel ist klar, sind Racheakte von Sympathisanten der Wessis, also der Ausländer, der Döner fressenden Unruhestifter, wie man die Minderheit der Zugezogenen mit zumeist schwarzem Haar hier zuweilen abschätzig nennt, dieser Tage nicht auszuschließen. Von daher ist zumindest die Präsenz der Polizei nicht ganz unberechtigt. Sie harrt aus, Stunde um Stunde, seit Freitag, seit durchgesickert ist, dass die Hirsch-Apotheker-Familie möglicherweise verstrickt sein könnte in den ungeklärten Tod des sechsjährigen Joseph Abdulla, Sohn einer zugereisten Wessi und eines gebürtigen Irakers, Sohn der Renate Kantelberg-Abdulla (47) und des Saad Abdulla (48), Sohn eines Paares, das zufällig auch eine Apotheke besitzt: die Center-Apotheke in der Stadtmitte.
Aber statt der erwarteten Rächer kommen bloß vereinzelt Zivilisten vorbei mit Rezepten oder auch Blumen in der Hand und der Beteuerung, „ihm“ trotzdem die Treue halten zu wollen. Ihm, dem angesehenen Besitzer der Hirsch-Apotheke. Ihm, dem wohlverdienten CDU-Stadtverordneten von Sebnitz. Ihm, dessen Name stadtbekannt ist und der trotzdem das Recht auf Persönlichkeitsschutz hat. Ihm, dem Vater einer 20-jährigen Tochter, die im Verdacht steht, am 13. Juni 1997 im Freibad von Sebnitz den sechsjährigen Joseph Abdulla mit einem „Elektroschocker“ gequält und anschließend ertränkt zu haben. Gemeinsam mit mindestens zwei weiteren jungen Männern aus Sebnitz und unter dem tatenlosen Zusehen zahlreicher Badegäste. 300 Menschen vergnügten sich an jenem Junitag auf der Liegewiese und im Wasser, als der Nichtschwimmer Joseph Abdulla zappelnd und um Hilfe brüllend im Schwimmbecken ums Leben kam.
„Da werden Sie verstehen, dass er nicht mit Ihnen reden möchte“, sagt eine Mitarbeiterin der Hirsch-Apotheke. Zumal doch nichts, aber auch gar nichts bewiesen sei. Oder hätten die drei wegen Mordverdacht Festgenommenen vielleicht die Tat gestanden? Habe die Apothekertochter etwa zugegeben, im Schwimmbad gewesen zu sein? Habe die Staatsanwaltschaft bestätigt, dass darüber hinaus 30 bis 50 Neonazis im Bad Joseph eingekesselt hätten, wie von Zeugen behauptet? Habe das sächsische Landeskriminalamt am Wochenende etwa seine Erkenntnis erhärten können, dass auch nur einer der drei der Neonaziszene angehöre? Na also!
Da kann der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU) noch so oft nach Sebnitz eilen und die Bevölkerung um Mithilfe bitten und sichtlich aufgewühlt mitteilen: „Die Dinge verdichten sich, dass es tatsächlich so war, dass der Junge unter Fremdeinwirkung gestorben ist.“ Wie sehr dieser Appell Teile der Bevölkerung beeindruckt hat, war im Internet-Gästebuch der Stadt nachzulesen: „Klasse!“, freute sich da einer über das tote Ausländerkind, bis die Homepage gesperrt wurde. Aber, fragt die Apothekenmitarbeiterin, kann man solche Reaktionen nicht auch verstehen? „Eine Frechheit sondergleichen“ sei es, wie die Stadt in den Dreck gezogen werde, allen voran von den Medien. Verantwortlich dafür: „die Frau, die uns den Rummel beschert hat“.
Die sitzt auf einem Stuhl im Hinterraum ihrer Center-Apotheke nahe dem Marktplatz von Sebnitz, eine aufrechte, fast zierliche Gestalt, und wiederholt seit vier Tagen vor laufenden Kameras die immer gleichen Schilderungen: Wie sie „sofort wusste, dass der Joseph nicht ertrunken ist“, als der Anruf aus dem Schwimmbad kam. Wo er doch so wasserscheu war, er, dieses ruhige, fast ängstliche Kind, das selbstzufrieden Parkdecks für seine Autos baute und ansonsten Wellensittiche liebte, wie der Verkäufer aus dem Zoogeschäft berichtet. Keine Raufereien, kein Draufgängertum. Wie sie dann – da lag er schon tot am Beckenrand, „der Notarzt war ja viel zu spät gerufen worden“, sagt Renate Kantelberg-Abdulla – die Blutergüsse entdeckte und das geschwollene linke Ohr und sich später fragte, weshalb die Staatsanwaltschaft das alles so wenig ernst nahm, die Ermittlungen nach einem Jahr einstellte und auch das rechtsmedizinische Gutachten aus Dresden lediglich „Tod durch Ertrinken“ feststellte. Dem „abnorm beweglichen Nacken“ sowie den „Ausstrahlungen von Elektroden im linken Unterraumbauchbereich“ hingegen, sagt Renate Kantelberg-Abdulla so abgeklärt, als doziere sie vor Studenten, habe man wenig Bedeutung beigemessen.
Weshalb sie schließlich auf eigene Faust losgezogen sei, zwei lange Jahre, zunächst, um von der Stadt wegen des fehlenden Bademeisters und Notarztes 50.000 Mark Schadenersatz einzutreiben, später dann von Haustür zu Haustür, bis sie 15 Personen zusammenhatte, die ihr an Eides statt bezeugten, Joseph sei gewaltsam gestorben. Weshalb sie den Leichnam ihres Sohns habe exhumieren und auf eigene Kosten ein zweites Mal untersuchen lassen, diesmal von Rechtsmedizinern der Universität Gießen. Die bestätigten den Tod durch Ertrinken, fanden darüber hinaus aber im Blut Spuren des Betäubungsmittels „Ritalin“. Obwohl die Rechtsmediziner darauf hinweisen, dass das Ritalin keinen Einfluss auf die Todesursache hatte, behauptet Renate Kantelberg-Abdulla: „Mein Sohn sollte vergiftet werden.“
Warum sie den Behörden immer noch keinen Einblick in das Privatgutachten gewährt hat, warum sie ihre gesammelten Zeugenaussagen erst der Bild-Zeitung und dann der Staatsanwaltschaft anvertraute, warum die Zeugen erst jahrelang geschwiegen hätten, um sich dann ausführlichst zu erinnern: auf alle diese Fragen gibt sie die ebenso scharfe wie knappe Antwort: „Die Zeugen hatten Angst, und ich misstraue der Staatsanwaltschaft.“
Darf man einer Mutter, die die Umstände des Todes ihres Sohnes erfahren will, zum Vorwurf machen, dass sie die von ihr erwartete Opferrolle nicht erfüllt? Offensichtlich kann man sich dazu hinreißen lassen. So wie der evangelische Pfarrer, der öffentlich zürnte, Josephs Eltern hätten die Aufsichtspflicht verletzt, und wegen dieser wenig rühmlichen Bemerkung bis auf weiteres vom Dienst suspendiert ist. So wie der Bürgermeister von Sebnitz, der den Sinn von Pressekonferenzen darin sieht, dass er Erklärungen zur tadellosen Zivilcourage der Sebnitzer Bevölkerung verliest und kritische Nachfragen mit Türenknallen beantwortet. So wie der katholische Pfarrer, der einen „rechtsradikalen Zusammenhang“ ausschließt und der Familie, wie so viele andere im Ort, schnellstmöglich ihren „inneren Frieden“ zurückwünscht. Auf dass sie endlich schweigen möge.
Wo sie schon für so viel Aufruhr und Neid gesorgt haben: Ende 1995 eröffnen die Kantelberg-Abdullas, die zuvor in Marburg studiert und im Irak gelebt haben, die Center-Apotheke in Sebnitz. Mit öffentlichen Existenzgründerfördermitteln werden sie, die zugereisten Wessis mit Doktortitel, gefördert in einer Region nahe Tschechien, in der bestenfalls die Grenzkriminalität boomt. Die Center-Apotheke ist die dritte Apotheke in einem Ort, der zu DDR-Zeiten mit einer einzigen gut über die Runden kam. „Die Konkurrenz hat uns das Leben zur Hölle gemacht“, sagt Renate Kantelberg-Abdulla. Kein Grund für sie, aufzugeben. Im Gegenteil: Die resolute Frau zieht für die SPD in den Stadtrat von Sebnitz ein, streitet sich dort wortgewandt mit dem Besitzer der Hirsch-Apotheke, seines Zeichens CDU-Mitglied und Vater einer Tochter, die Renate Kantelberg-Abdulla der rechtsextremen Szene zugehörig wähnt. „Ich habe ihr immer gesagt, sie soll sich mit ihrem Verdacht an die Staatsanwaltschaft wenden“, sagt der Bürgermeister von Sebnitz. „Man kann wirklich nicht sagen, dass die Kantelbergs einfache Zeitgenossen wären“, sagt ein Mitglied der örtlichen Antifa. Mag sein. Nur: Ist das eine Erklärung? Eine Entschuldigung? Ein Grund zum Töten gar?
Diana, die 15-jährige Tochter, kommt ins Interviewzimmer herein. Sie hatte vor dreieinhalb Jahren ihren jüngeren Bruder ins Schwimmbad begleitet und wurde dann, wie sie sagt, im Becken von anderen Jugendlichen abgelenkt, damit sie ihrem Bruder nicht zur Hilfe kommen konnte. Aber darum geht es im Moment nicht. Ein Privatsender bittet die Mutter in eine Talkshow, aber, sagt Diana, „die brauchen was Exklusives“. Und dann ist da noch die Anfrage einer Zeitung nach Fotos von Josephs Leichnam. Die Mutter nickt, Diana verschwindet, die Tür zum Nebenraum bleibt offen. Es ist das Medikamentenlager der Apotheke, aber weil die seit Tagen geschlossen ist, haben die Kantelberg-Abdullas es kurzerhand in ein Pressezentrum mit Netzanschlüssen und Telefonleitungen für die Laptops der ganz eiligen Kollegen umfunktioniert. Ginge es hier nicht um den tragischen Tod eines Kindes, man wäre geneigt, den Kantelberg-Abdullas die Vermarktung ihres Kummers zu unterstellen.
Saad Abdulla weiß das. Allein: Es kümmert ihn nicht mehr. Zu lange hat ihn niemand ernst genommen, als dass er jetzt über Zweifel anderer an seiner Sicht der Dinge nachdenken könnte. „Nein“, sagt er, „der Tod meines Sohns war von langer Hand geplant.“ Ausländerfeindlichkeit sei nur nur ein Grund: Erst habe eine „eingeschleuste“ Mitarbeiterin sie bespitzelt, Preise gefälscht und sich mit fiktiven Rezepten bereichert, dann habe sie diese Erkenntnisse den anderen Apotheken, allen voran der Hirsch-Apotheke, zugetragen; und nun sei es doch kein Wunder, dass ausgerechnet die Tochter des dortigen Apothekers festgenommen worden sei. Er klingt drohend: „Und alle diese Umstände klären wir jetzt.“
Vermutlich wird anschließend eine der beiden Apotheken für immer geschlossen bleiben. Die Frage ist, welche.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen