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„Die Richter passen auf die EU auf“

Der Präsident des EuGH, Rodriguez Iglesias, über die Grundrechtecharta und den von Joschka Fischer geforderten Kompetenzkatalog

Die Anfragen nationaler Gerichte an den EuGH haben sich seit 1990 fast verdoppelt

Interview: CHRISTIAN RATH

taz: In immer sensibleren Bereichen harmonisiert die EU das Recht – jetzt auch im Ausländer- und Asylrecht. Gleichzeitig soll die EU-Grundrechtecharta unverbindlich bleiben. Gibt es hier nicht Rechtsschutzlücken für die EU-Bürger?

Gil Carlos Rodriguez Iglesias: Nein, auch gegenüber den Aktivitäten der EU ist der Grundrechtsschutz gewährleistet. Der Europäische Gerichtshof hat in den letzten 30 Jahren die Grundrechte geschützt und wird dies auch weiter tun. Er orientiert seine Rechtsprechung dabei an der Europäischen Menschenrechtskonvention des Europarats und den nationalen Verfassungstraditionen der 15 EU-Mitgliedsstaaten.

Es ist also völlig egal, ob die neue Grundrechtecharta zu einem verbindlichen Bestandteil der EU-Verträge wird?

Nein, natürlich nicht. Für die Bürger wäre es sicher ein Vorteil, wenn sie in einem leicht zugänglichen Dokument nachlesen könnten, welcher Grundrechtsstandard auf EU-Ebene gilt.

Wird der Gerichtshof eine unverbindliche Grundrechtecharta ignorieren oder sich schon jetzt an ihr orientieren?

Der Einfluss der Charta auf unsere künftige Rechtsprechung kann jetzt noch nicht abgeschätzt werden. Er hängt auch davon ab, ob die Grundrechtecharta im EU-Vertrag zumindest erwähnt wird.

Seit der Berliner Rede von Joschka Fischer wird die Forderung immer lauter, dass die EU einen Kompetenzkatalog braucht, der die Zuständigkeiten von EU und Mitgliedsstaaten voneinander abgrenzt.

Die Zuständigkeiten der Europäischen Union sind in den Verträgen bereits jetzt genau beschrieben. Als europäisches Verfassungsgericht überwacht der EuGH auch, dass die EU die ihr eingeräumten Kompetenzen nicht überschreitet.

Der Vorwurf lautet ja, dass die Zuordnung zu ungenau ist, weil die EU immer zuständig ist, wenn es um den Binnenmarkt geht.

Es genügt aber nicht, sich nur auf den Binnenmarkt zu berufen. Ob eine Maßnahme wirklich dieses Ziel hat, prüfen wir sehr genau. Erst vor wenigen Wochen haben wir aus diesem Grund die EU-Tabakwerberichtlinie für nichtig erklärt.

Bisher stellt jeder EU-Staat einen Richter am EuGH. Die EU soll aber deutlich größer werden. Kann ein EuGH mit 30 Richtern noch funktionieren?

Für den EuGH bringt die Erweiterung ein Dilemma mit sich. Einerseits ist ein Richterplenum mit 30 oder 35 Richtern kaum noch arbeitsfähig. Andererseits ist es für die Akzeptanz unserer Urteile gut, wenn Richter aller Staaten beteiligt sind.

Ist der EuGH für eine Beschränkung der Richterzahl?

Der EuGH überlässt diese Entscheidung der Politik. Ich persönlich bin allerdings der Meinung, dass unser Gericht nicht mehr größer werden sollte. Fünfzehn Richter sind genug.

Aus der Regierungskonferenz, die den EU-Gipfel von Nizza vorbereitet, ist zu hören, dass die Steigerung der Richterzahl entsprechend der EU-Erweiterung bereits beschlossene Sache ist – während man über die Größe der Kommission noch heftig streitet. Wird der EuGH schlecht behandelt?

Nein, das wäre ein falscher Eindruck. Die Kommission scheint für die Mitgliedstaaten politisch wichtiger zu sein, deswegen wird auch mehr über die Größe der Kommisson gestritten als über die des EuGH. Im Übrigen werden in Nizza, so wie es jetzt aussieht, viele unserer Wünsche erfüllt. So wird etwa die Möglichkeit geschaffen, die Klagen von EU-Bediensteten in neuen Beschwerdekammern zu behandeln, um damit den EuGH und das Europäische Gericht erster Instanz zu entlasten.

Günter Hirsch, der ehemalige EuGH-Richter und jetzige Präsident des Bundesgerichtshofes, hat gewarnt, dass der EuGH wegen der zunehmenden Belastung bald nicht mehr fähig ist, seine Aufgaben zu erfüllen. Sehen Sie das auch so?

Die Anfragen nationaler Gerichte an den EuGH haben sich seit 1990 fast verdoppelt. Das ist einerseits schön, weil es zeigt, dass die Kooperation der verschiedenen Ebenen funktioniert, andererseits brauchen wir immer länger, um die Anfragen zu beantworten. Derzeit haben wir eine durchschnittliche Verfahrensdauer von 21 Monaten, und der Rechtsstreit geht dann ja auf nationaler Ebene noch weiter. Eine weitere Verlängerung ist nicht akzeptabel.

Hirsch hat eine radikale Reform vorgeschlagen, um den EuGH zu entlasten: Die Auslegung europäischen Rechts soll dezentralisiert werden. Einfache Probleme könnten dann nationale Gerichte entscheiden.

Dieser Vorschlag wird in Nizza keine Rolle spielen und hat wegen der Gefahren für eine einheitliche Auslegung des EU-Rechts auch sonst wenig Anhänger gefunden. Wir brauchen im Moment keine radikale Neuerungen, sondern praktische Hilfe, etwa mehr Übersetzer.

Warum mehr Übersetzer?

Weil wir ein Urteil erst verkünden können, wenn es in alle elf Amtsprachen übersetzt wurde. Das verzögert den Abschluss eines Verfahrens jeweils um mehrere Monate. Im Interesse der Verfahrensbeteiligten muss dies beschleunigt werden.

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