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Das Rote Orchester kickt auf

Wir lassen glotzen: Ein Film blickt zurück in die grandiosen 70er-Jahre von Dynamo Kiew und fragt, was aus Oleg Blochin und den anderen Stars von damals geworden ist

BERLIN taz ■ So ein Tor fällt sonst fast nie, erst recht nicht gegen den FC Bayern: In der Mitte der eigenen Hälfte bekommt der gegnerische Stürmer den Ball, dringt an der linken Außenlinie entlang mit raketenhafter Geschwindigkeit in die gegnerische Hälfte ein, lässt dort Katsche Schwarzenbeck alt aussehen und bringt sich in eine ideale Flankenposition. Doch weil er zu schnell war, ist niemand mitgelaufen; nicht einmal für einen Kurzpass bietet sich ein Mitspieler an. Jeder andere Angreifer würde jetzt warten, bis jemand nachrückt. Oder den Ball zurückspielen. Dieser Mann dagegen zieht konsequent los Richtung Strafraum, treibt eine Handvoll weiterer Bayern-Spieler zur Verzweiflung und schießt unhaltbar ein.

Das war 1975 gegen Dynamo Kiew, im Finale des Supercups, der seinerzeit weitaus mehr Bedeutung hatte als heute. Erzielt hat das Tor Oleg Blochin, wie übrigens auch die anderen beiden Treffer bei den beiden Endspielsiegen (2:0 und 1:0) gegen die damals von Dettmar „Professor“ Cramer trainierten Münchener. Im selben Jahr, als gerade mal 22-Jähriger, wurde der Dynamo-Linksaußen zu Europas Fußballer des Jahres gewählt – mit 80 Stimmen Vorsprung vor Franz Beckenbauer.

In ihrem Dokumentarfilm „Dynamo Kiew. Legende einer Fußballmannschaft“ blicken Alexandra Gramatke und Barbara Metzlaff nun zurück auf diese Zeit, in der Blochin und seine Kameraden zu den größten Fußballstars in der Geschichte der Sowjetunion avancierten – und vergleichen sie mit dem wenig glamourösen Leben, das die nunmehrigen Fiftysomethings heute führen.

Blochin, vielleicht der einzig wahre Popstar, den der Sozialismus je hervorgebracht hat, trainiert wenigstens den kleinen griechischen Erstligaclub Ionikos. Immerhin. Die meisten anderen Kicker aus dem einst als „Rotes Orchester“ gefeierten Ensemble leben dagegen immer noch in Kiewer Hochhaus-Eigentumswohnungen, die ihnen in glorreichen Tagen der Staat geschenkt hat, unterrichten zum Beispiel in einem Sportinternat und müssen monatelang auf ihren Lohn warten. Hiesige Ex-Stars von ähnlichem Kaliber kennen solche Gegenden und solche Probleme bestenfalls aus dem Fernsehen.

Während ihrer aktiven Zeit hatten die Dynamo-Helden „Minderwertigkeitskomplexe gegenüber den Profis aus dem Westen“, sagt Wladimir Weremejew, heute Co-Trainer der ukrainischen Auswahlmannschaft. Schließlich verdienten Blochin und Co. nicht annähernd so viel Geld. Und deshalb wollten sie wenigstens „so aussehen wie die Leute, die die Mode diktierten“ (Weremejew). Das Vorhaben misslang allerdings. So kombinierte, Ergebnis einer Shopping-Tour im Westen, ein Mannschaftskollege eine karierte Jacke mit einem gestreiften Hemd und einer zu keinem von beiden Mustern passenden Krawatte.

Auch manche Szenen, die Gramatke und Metzlaff in sowjetischen Archiven aufgespürt haben, wirken amüsant – etwa solche, die die Anfänge der wissenschaftlich fundierten Trainingsarbeit unter dem damals 36-jährigen Waleri Lobanowski zeigen. Andererseits vermitteln die Autorinnen viel von der post-realsozialistischen Tristesse – erfreulicherweise ohne Mafia-Folklore und andere von westlichen Filmemachern bevorzugte Klischees. Streckenweise hat diese Dokumentation über Dynamos große Zeit durchaus Spielfilm-Qualitäten, vor allem wenn durch die spektakulären Spielszenen aus den 70er-Jahren Tempo in die ansonsten ruhige Erzählung kommt. Der Film ist bisher nur als Kaufvideo erhältlich, aber eigentlich gehört er ins Kino. RENÉ MARTENS

Alexandra Gramatke/Barbara Metzlaff: „Dynamo Kiew. Legende einer Fußballmannschaft“, Thede Filmproduktion, Hamburg 2000. Zu bestellen per Fax (0 40/8 99 11 35) oder Mail (info@diethede.de)

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