: Cool: 100-Stunden-Woche
Die New Economy: Arbeiten bis Mitternacht und es toll finden – das ist die Avantgarde. Geld und Hierarchie? Uns doch egal ■ Von Peter Ahrens
Vor einem Jahr war Jan Hülshoff noch ein unglücklicher Mensch. Er hatte einen gut dotierten Job bei einer Unternehmensberatung, feste Arbeitszeiten, seine Beziehung funktionierte. Heute geht es ihm besser: Er schuftet öfter mal 18 Stunden am Tag, er verdient deutlich weniger als vorher, die Freundin ist weg. In seinem Büro liegt eine Matratze, damit er auch mal zwei oder drei Stunden Schlaf findet. Wenn sein Baby ihn schlafen lässt. Das Baby heißt Net Eddy, hat ein grünes Hawaiihemd an und sieht aus wie ein kleiner grauer Alien mit einer Antenne am Eierkopf. Eddy macht sich für die Internetfirma Cyquest auf Millionenjagd, und Hülshoff hat ihm beigebracht zu laufen, sich am Kopf zu kratzen und Wasser zu lassen. „Man kann etwas bewegen“, sagt Hülshoff und sieht dabei ganz zufrieden aus. Bis auf die Ränder unter den Augen. An denen erkennt man die Schaffenden der New Economy in dieser Stadt.
Essen ist Arbeit, Arbeitsessen heißt das. Gespräche sind Arbeit, Meetings heißt das. Freizeit ist Arbeit, „ich liebe die Abende, da kann man in Ruhe arbeiten“, heißt das. Torsten Appel ist auch einer von denen, denen es so geht. Vor einem Jahr hat er mit zwei Freunden Clickfish.com gegründet, seine Woche hatte seitdem 100 Stunden, „jetzt bin ich schon auf 80 Stunden runter“. Vor einem Jahr war er noch bei Philipps, irgendwo im Management, die Firma wollte, dass er nach Dallas geht, um in der dortigen Filiale zu arbeiten. Leben in Texas – ein Job, nach dem sich Hunderte die Finger geleckt hätten. Torsten Appel kündigte. In Dallas hätte er auch nur Philipps-Druckvorlagen, Philipps-Formulare vorgefunden, dasselbe in Grün wie in Deutschland, und immer einen, den man hätte fragen können, wenn man nicht weiter wusste. Entweder bei Philipps Deutschland. Oder wenn nicht da, dann bei der Europazentrale, und wenn auch da keiner Bescheid hätte geben können, dann garantiert einer in der Philipps-Weltzentrale. Torsten Appel wollte aber nicht fragen, er wollte selbst entscheiden. Jetzt entscheidet er. Er hat das Personal seiner Firma innerhalb eines Jahres von drei auf über 50 gesteigert und sagt: „Ich habe den Überblick über mein Privatleben komplett verloren.“
Es hat etwas Absurdes, Aberwitziges: In dem, was sich New Economy nennt, in der Welt der Internetleute und Online-Redakteure, da sitzen die 20- bis 35-Jährigen von morgens um acht bis Mitternacht, sieben Tage in der Woche, in ihren umgebauten Fabrikhallen und wollen es so. Und wollen es doch nicht. Wenn Appel an seine Philipps-Zeit denkt, sagt er: „Damals hatte ich ein Leben.“ Und Hülshoff will auf jeden Fall wieder dahin zurück, zu wissen, wie sich das anfühlt, Feierabend. Irgendwann. Aber nicht jetzt.
Jetzt ist anders. Ohne Wochenende, ohne Freizeit, die Firma ist das Leben. „Ich kaufe mir keine Klamotten mehr, die private Post stapelt sich bei mir zu Hause ungeöffnet“, sagt Appel. Sein aktueller Kontostand? Keine Ahnung. Er weiß nur, dass er knapp die Hälfte von dem verdient, was er bei Philipps hatte. Sein Geld geht für Miete und den Pizza-Service drauf: „Wofür soll ich es sonst ausgeben?“
Bei Cyquest gibt es vor größeren Projekten etwas, das heißt bei den MitarbeiterInnen Single-Toto. Man wettet, welche Beziehung als nächstes draufgeht. Und irgendwen trifft es immer. Die Freundin von Jan Hülshoff hat sich verabschiedet, als er die Millionenjagd vorbereitet hat. Er sagt: „Ich hatte keine Wahl.“ So sei das eben, wenn man in der New Economy tätig ist. Die Beziehung Appels zu seiner Freundin klappt nur, „weil die mindes-tens genauso bescheuert ist wie ich“. Cyquest-Geschäftsführer Joachim Diercks, auch er Gründer der Firma und gerade mal 29, spricht von der „emotionalen Belastung“, die der Job mit sich bringt. Hülshoff erinnert sich an ein Wochenende, „da musste ich mal Pause machen“, das sei auch ganz schön gewesen, „mal so ein bisschen Leerlauf, da konnte man wieder Kraft schöpfen für die Arbeitswoche“ und verbessert sich: „Freizeit, das ist ja eigentlich das Leben an sich.“
Abends, erzählt Clickfish-Marketingleiterin Salloa Rönnau, trifft man sich auch mal zu einem DVD-Abend – in der Firma. Sie ist stolz darauf, auch schon mal um 20 Uhr zu gehen, meist sitzt sie aber auch noch später im Büro, wie die anderen auch, „dann geht aber auch schon mal einer los und holt eine Dose Bier“. Als Appel einen Personalchef suchte, hat er den Bewerber am Samstag Abend zu Hause in Frankfurt angerufen und ihm mitgeteilt, dass sie an ihm interessiert seien. Der Kandidat hat daraufhin vorgeschlagen, ob man sich nicht am kommenden Vormittag mal treffen sollte, hat sich am Sonntag morgen um sechs Uhr in den Zug nach Hamburg gesetzt und stand um 11 Uhr auf der Matte. „Das fand ich schon eine tolle Leistung.“ Der Mann bekam den Job.
Diercks überlegt, bei Cyquest einen Menschen einzustellen, der als eine Art Best Boy sich um alltägliche Belange wie Einkäufe und Besorgungen für die MitarbeiterInnen kümmert – weil die nicht dazu kommen. Der Kühlschrank von Appel ist seit Wochen leer. „Wenn ich nachts nach Hause komme, besteht meine Freizeit nur aus dem Weg zwischen Haustür und Bett.“ Um die MitarbeiterInnen dafür zu entschädigen, gibt es Süßigkeiten bei Cyquest, eine Masseurin wolle man jetzt auch mal ausprobieren, die sich um die Rückenmuskulatur derer kümmert, die den ganzen Tag vorm Rechner hocken.
Warum tun die das? Warum tun die sich das an? Joachim Diercks sagt: „Ich hänge an dem Projekt.“ Und Torsten Appel spricht „von der einmaligen Chance, selbst was zu machen“. Reich werden, Hierarchien, Karriereleiter – das scheint sie als Motiv nur am Rande oder überhaupt nicht zu interessieren. Die Geschäftsführung verdient nicht viel mehr als die normalen Beschäftigten. Hier reden die, die sich als Avantgarde verstehen. Arbeit ist geil. Gewerkschaften, Bürozeiten, darüber zucken sie bestenfalls die Achseln. Wenn ein CDU-Mensch aus dem Sauerland von Leitkultur spricht, lachen sie sich kaputt. Das ist Denken von gestern, das ist Oldest Economy. Als ein Handwerker zu Appel sagte, er komme irgendwann zwischen acht und 13 Uhr vorbei, konnte der nur den Kopf schütteln. „Das verstehe ich nicht, so etwas macht mich kraftlos.“
Und wenn sie sich entspannen wollen, wenn sie mal raus müssen aus ihren Büros, dann treffen sie sich alle zwei Monate auf der Cap San Diego zum Treffen der Online-Kapitäne, organisiert von Hamburg Newmedia.Network, der Kooperation von Hamburger New Economy-Unternehmen und der Wirtschaftsbehörde, die Nahtstelle, bei der die Kontakte der Branche zusammenlaufen. An diesem Abend gibt es Bier, Gummibärchen und Rindsbuletten, und man kann sich dabei herrlich über die Arbeit unterhalten, Kontakte knüpfen.
Torsten Appel hat einen Traum: „Einmal samstags morgens in Ruhe eine Zeitung lesen.“ Irgendwann. Aber nicht jetzt. Eigentlich, sagt er, dürfte es das alles nicht wert sein, „aber es gibt irgendwann kein Zurück. Man kommt nicht mehr raus aus dem Kreislauf.“ Und dann fügt er noch an: „Es ist ganz klar, dass wir diesen Job nur auf Zeit machen. Ich gehe nicht davon aus, dass irgendwer von uns die Rente bei Clickfish erlebt.“
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