: Gericht ist für Verfall der Sitten
Erstmals entschied ein deutsches Gericht, dass Prostitution nicht sittenwidrig ist. Die Betreiberin des Berliner Café „Pssst“ hatte gegen die Schließung durch das Ordnungsamt geklagt. Dieses hatte ihr vorgeworfen, dass sie der Unsittlichkeit Vorschub leiste
von BARBARA BOLLWAHNDE PAEZ CASANOVA
„Prostitution vermarktet den Intimbereich der Frau in für sie entwürdigender Weise und beutet die Triebhaftigkeit der Freier aus.“ Jahrelang bestimmte dieser Satz die Rechtsprechung der obersten deutschen Gerichte, wenn sie darüber zu entscheiden hatten, ob die Kontaktanbahnung zwischen Freiern und Prostituierten sittenwidrig ist.
Seit gestern ist das nun anders: Das Berliner Verwaltungsgericht entschied, dass Prostitution ohne kriminelle Begleiterscheinungen „heute grundsätzlich nicht mehr als sittenwidrig einzustufen ist“. Mit dieser Entscheidung gab das Gericht der Betreiberin des Berliner Cafés „Pssst“ auf ganzer Linie Recht.
Seit drei Jahren führt Felicitas Weigmann, eine 43-jährige gelernte Krankenschwester, das Café im bürgerlichen Wilmersdorf und vermietet im Hinterhaus desselben Gebäudes stundenweise Zimmer.
Im Unterschied zu vielen der knapp 300 bordellartigen Betriebe in der Hauptstadt hatte Weigmann, selbst jahrelang Prostituierte, nie versucht, Bar und Zimmer räumlich zu trennen, um das Ordnungsamt „ruhigzustellen“. Die Frauen im „Pssst“, das unter Taxifahrern „das stille Café“ genannt wird, arbeiten freiwillig, und auch das Landeskriminalamt ist voll des Lobes über den „sauberen Betrieb“.
Dennoch hatte ihm das zuständige Ordnungsamt im Dezember 1999 die Gaststättenerlaubnis entzogen. Die Begründung der Berliner Behörde: Das Anbahnen sexueller Kontakte schaffe „überaus günstige Bedingungen für die Prostitutionsausübung“.
Bei einer ersten mündlichen Verhandlung vor dem Berliner Verwaltungsgericht im Mai dieses Jahres hat das Bezirksamt auf Drängen des Gerichts die Schließung zurückgenommen. Es beharrte aber weiterhin darauf, dass gegen das Gaststättengesetz verstoßen werde.
Die Richter begründeten ihr gestriges Urteil mit dem Wandel in der sozialethischen Bewertung der Prostitution. „Nach den heutigen Wertvorstellungen wird die Prostitution nicht als moralisch wertvoll eingestuft“, sagte Richter Percy MacLean, „aber als Teil unseres Zusammenlebens akzeptiert.“
Auch das Vorhaben der Bundesregierung, die rechtliche und soziale Situation von Prostituierten zu verbessern und die Einrichtung einer entsprechenden Arbeitsgruppe flossen in die Entscheidung ein. Eine Mitarbeiterin des Bundesfrauenministeriums erklärte gestern, dass es darum gehe, „die Sittenwidrigkeit aus der Rechtsprechung zu entfernen“. Das sei „nicht ganz einfach“. Aber sie hoffe, dass der Entwurf bis Anfang kommenden Jahres eingebracht werde.
Das Gericht hatte rund 50 Vereine, Institutionen und Verbände angeschrieben und um eine „sozialethische Bewertung von Prostitution“ gebeten. Viele bestätigten den Wandel. Das Gericht berücksichtigte außerdem die Prostitution als Wirtschaftsfaktor. So betrage der Jahresumsatz in Deutschland 12,5 Milliarden Mark. Täglich würden 1,2 Millionen Freier die Dienste von Prostituierten in Anspruch nehmen.
Obwohl das Urteil wenig überraschend war – das Gericht hatte schon im Mai signalisiert, dass sich beim Begriff Sittenwidrigkeit ein Wandel vollzogen habe – feierte Felicitas Weigmann mit einem selbst gedichteten Lied nach der Melodie „Weißt du wie viel Sternlein stehen“ vor dem Gerichtsgebäude.
Die frauenpolitische Sprecherin der Grünen, Irmingard Schewe-Gerigk, überreichte Weigmann einen Adventskalender mit Kondomen und dankte ihr, das Thema Prostitution „öffentlich gemacht zu haben“. Weigmanns Anwältin, Margarete von Galen, bezeichnete das Urteil als „überfällig“. Das Bezirksamt will das schriftliche Urteil abwarten und dann entscheiden, ob es gegen die Entscheidung Berufung einlegen wird.
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