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Blindenschule und Braille-Schrift für Tibet

Von der Strafe der Götter: Über einen blinden Jungen, der Lesen und Schreiben lernte: Die Tibetologin Sabriye Tenberken stellt heute im Literaturhaus Hamburg ihr Buch „Tashis neue Welt“ vor  ■ Von Christian T. Schön

Das „Dach der Welt“, die tibetische Hochebene, liegt in 3000 bis 5000 Metern Höhe, umgeben von den hohen Gebirgszügen des Kunlun und Himalaya. Dort ist die Höhenstrahlung der Sonne besonders intensiv und gefährlich; sie kann die Augen nachhaltig schädigen und zu Erblindung führen. Außerdem erlaubt die karge Landschaft nur eine einseitige Ernährung, so dass das für die Sehkraft wichtige Vitamin A in der Nahrung der dortigen Menschen oft fehlt.

Staub und Ruß, vor allem durch die Yakdung-Befeuerung in den Häusern und Zelten, tragen zudem dazu bei, dass Augenerkrankungen nicht ganz heilen oder versorgt werden können. Von den 2,4 Millionen Einwohnern Tibets sind daher 10.000 blind, vor allem Kinder sind davon betroffen. Im Mai 1998 hat die 30jährige Deutsche Sabriye Tenberken, selbst blind, deshalb in der Hauptstadt Lhasa die erste Blindenschule Tibets gegründet, über die sie jetzt in ihrem Buch Tashis neue Welt berichtet, das sie heute in Hamburg vorstellt.

Nach ihrer Schulzeit mit der Frage konfrontiert, was sie in Zukunft machen wolle, stieß sie im Zusammenhang mit einer Tibet-Ausstellung auf das Thema und nahm das Studium der Tibetologie auf.

Um die tibetische Schrift, eine Silbenschrift, die im 7. Jahrhundert aus dem indischen Schriftsystem entwickelt wurde, lesen und lernen zu können, arbeitete sie während des Studiums mit einem Gerät namens Optacon, das die Zeichen auf ihre Finger übertrug. Da dies ein sehr umständlicher Vorgang war, entwickelte sie allein für jedes der dreißig tibetischen Silbenzeichen eines in Braille-Sechspunkt-Schrift.

Auf ihrer ersten Reise nach Tibet 1997 suchte sie gleich das Gespräch mit blinden Kindern und nahm erste Kontakte mit den örtlichen Behörden auf. Nachdem die Arbeitserlaubnis erteilt war, gründete sie die Schule als ersten Teil eines Blindenzentrums in Lhasa. Mittlerweile werden an der Schule 17 Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren von vier LehrerInnen unterrichtet; angefangen hatte sie einmal mit fünf bis sechs Kindern.

In ihrem jetzt erschienen Kindersachbuch Tashis neue Welt – Ein blinder Junge zeigt uns Tibet erzählt sie die Geschichte eines dieser Kinder, die vom Land in die große Stadt zogen, um in die Schule für Blinde zu gehen. „Wie der Dorfdämon in einer großen Wut Tashis Augen stahl“ – Viele Tibeter sehen Blindheit als Strafe der Götter an. Wegen seiner Erblindung kann Tashi nicht am Schulunterricht teilnehmen, doch während er die Ziegen hütet, hört er die ganze Welt um sich herum. Vielen Blinden in Tibet dagegen ergeht es schlechter: Sie leben isoliert, werden von ihren Familien versteckt gehalten oder zum Betteln auf die Straße geschickt; einige wurden sogar ausgesetzt. Und sie alle, wie Tashi, besitzen überhaupt keinen Zugang zu Bildung oder Ausbildung.

Doch Tashi hört von einer Schule für Kinder, die nicht sehen können, und mit einem Nomadentreck reist er allein nach Lhasa. Auf dem Schulstundenplan stehen u.a. tibetische, chinesische und englische Blindenschrift, Lebenspraxis und Mobilitätstraining.

Außerdem bildet das Blindenzentrum weiter BlindenlehrerInnen aus, die später den Unterricht in der Schule übernehmen sollen. Finanziert wird das Projekt bisher durch Spenden aus Deutschland und den Niederlanden, und der chinesische Staat will ab nächstem Jahr nach und nach die Gehälter der Lehrer-Innen übernehmen.

Im März nächsten Jahres werden die ersten Kinder die Schule verlassen und in ihre Heimatdörfer zurückkehren. Da der Unterricht in Tibet allgemein sehr auditiv, auf Erzählen, Zuhören und Auswendiglernen ausgerichtet ist, stehen die Chancen nicht schlecht, dass sie dort in den regulären Unterricht integriert werden können – vor allem mit dem zusätzlichen Mittel Blindenschrift. Später könnten sie in speziell für Blinde reservierten Berufen wie Masseur oder Physiotherapeut Arbeit finden.

Lesung heute, 15 Uhr, Literaturhaus

Tashis neue Welt, Cecilie Dressler Verlag, Hamburg 2000, 29.80 DM (Fassung in Blindenschrift in Vorbereitung). Mein Weg führt nach Tibet, KiWi, Köln 2000, 36 DM

Im Internet: www.blinden-zentrum-tibet.de

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