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Der letzte Tag von Kreuzberg: Die offizielle Abschiedsfeier im Rathaus beginnt nach alter Tradition – mit einer Protestblockade. Keine Frage: X-Berg muss in Berlin wieder erkennbar werden, und die Ossis sollen bloß kommen

Trillerpfeifen, Transparente, Tränen – die offizielle Abschiedsfeier Kreuzbergs beginnt nach alter Tradition: mit Protest. Kaum war die letzte Drucksache der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) zur Kenntnis genommen, johlte es gestern Abend schon im Foyer des Kreuzberger Rathauses. Und ohne auf sein Abschiedsgeschenk zu warten, verschwand Bürgermeister Franz Schulz (Grüne) aus der BVV: „Da will ich mal vermitteln gehen.“

Im Foyer tummeln sich aufgebrachte Lehrer, Schüler und Eltern der Kreuzberger Musikschule, blockieren die Treppe, auf der die Gäste zum letzten Festakt des Fusionsbezirks schreiten. Die Westberliner Musikschulleute – sie sind die Vereinigungsverlierer. Ihr geliebter Direktor wurde bei der Fusion mit der Friedrichshainer Musikschule rausgekantet, sagen sie.

„Das AC-Verfahren war nicht fair“, tönt es aus dem Megafon. „Buh!“, rufen artig die Protestierer. AC-Verfahren? Ein Assesment-Center, ein neumodisches Personalauswahlverfahren, muss den Musikschulleuten mit ihren Batikhosen und Jutetaschen vorkommen wie die Hölle der Postmoderne. „Ich weiß, dass Sie mich nicht verstehen“, meint Schulz und schwafelt von einer „personalaktlichen Synopse“. Lautstarker Protest ist ihm sicher. Besonders pfiffige Eltern hängen ihrem achtjährigen Sohn Papptafeln um den Hals, die der kleine Kerl im bunten, handgestrickten Pulli kaum tragen kann. Die Botschaft auf der Brust: „Musik statt Gewalt“. Die auf dem Rücken ist noch einfallsreicher: „Musik statt Drogen“.

Den Musikkünstlern geht es jedoch weder um Musik, Gewalt noch um Drogen – sondern ums Geld. Die Kreuzberger werfen der neuen Chefin aus dem Osten vor, sich nicht um Honorarmittel zu kümmern. Zudem kürze der Bezirk Gelder, so dass Unterricht wegfalle, heißt es. Bürgermeister Schulz verweist aufs knappe Kassen. Und macht den Protestlern ein echt demokratisches Angebot: „Reden Sie heutemit den Bezirksverordneten!“ Das Buffett wird eröffnet, die Blockade löst sich langsam auf.

Die Kreuzberger Grünen haben Erfahrung, Protestler zu integrieren. Seit 1979 sind sie in der BVV, seit 1995 stellen sie den Bürgermeister. Werner Orlowski, der erste Grünen-Stadtrat der Republik, erinnert sich: Die Hausbesetzer seien die Speerspitze gewesen. Zwar seien heute alle Mieter, aber sie hätten die Demokratisierung der Stadtplanung erkämpft. „Utopien greifen immer weiter als die Realität.“ Ein türkischer Teenie „versteht nur Bahnhof“. Sein deutscher Freund: „Ich hör gar nicht zu.“

Dann aber schauen sie gebannt zu. Die Breakdance-Gruppe einer Kreuzberger Schule – fast nur türkische Jungs – zeigt ihre Kunststückchen. Am gewandtesten ist ein Zwölfjähriger mit Goldkettchen: Pirouetten am Boden. Probleme hat er nur, auf die Tanzfläche zu gelangen – weil er so breitbeinig läuft, dass er kaum vorwärtskommt.

Später tritt der Kinderzirkus Kapuwazi auf. „Wir Kreuzberger haben schon viel verloren“, sagt der Chef. Die 36, die 61. „Was sind das jetzt für blöde Postleitzahlen geworden?“ Eines aber lasse man sich nie nehmen: die Kreuzberger Identität, zu der verschiedene Kulturen gehörten. Kreuzberg muss in Berlin erkennbar bleiben! Zum Beispiel in den Darbietungen des Zirkus: Vier deutsche Teenies, bunte Dreadlocks auf dem Kopf, jonglieren geschickt mit Kunststoffkeulen.

Kreuzberg ist auch am Buffett erkennbar: Das Bier von Hauptsponsor Schultheiss fließt in Strömen, die Bouletten gehen weg wie warme Böreks. Die Kreuzberger sind bescheiden genug, nicht mit ihrer zivilisatorischen Großtat zu prahlen: Angesichts der BSE-Hysterie durchgedrehtes Fleisch zu mampfen, spricht nämlich für gesunde Gelassenheit. Traurig ist die Abschiedsfeier nicht: Die Gläser klirren, und der Abend endet, wie er begann. Mit einer Blockade – diesmal vor der Toilette. Kreuzberg übt. Die Ossis sollen bloß kommen! RICHARD ROTHER

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