Sozialdemokraten wurden nicht geduldet

Die Gussstahlfabrik Krupp stieg in gut fünfzig Jahren vom finanziell fast bankrotten Familienbetrieb zum Stahlgiganten des Kontinents auf: Krupp baute Eisenbahnen und Kanonen für den deutschen Kaiser – und seine Gegner. Den problematischen Aufstieg der Industriellen erzählt der Historiker Lothar Gall

von NILS FREYTAG

Am Stahlgiganten Krupp schieden sich die Geister bereits im 19. Jahrhundert: exzentrische Außenseiter, selbstherrliche Gewinnler oder sozialpolitische Pioniere, so lauteten plakative Urteile über die preußische Industriellendynastie. Vor allem aber galt das Essener Industrieimperium als Waffenschmiede des Deutschen Kaiserreiches, das nach Bismarcks berüchtigtem Ausspruch aus „Blut und Eisen“ erstand und 1918 schließlich auch darin unterging. Zum todbringenden Symbol dieses Kanonenkönigtums wurde eine im Ersten Weltkrieg produzierte schwere Haubitze: die „Dicke Bertha“, scherzhaft so genannt nach der seinerzeitigen Hauptaktionärin des Unternehmens, Bertha Krupp von Bohlen und Halbach. Den in vielerlei Hinsicht problematischen Aufstieg der alteingesessenen Essener Bürgerfamilie Krupp von den waghalsigen Anfängen bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs zeichnet der Frankfurter Historiker Lothar Gall nach – und er verschweigt dabei keinesfalls die Schattenseiten.

An der Wiege Krupps standen zu Beginn des 19. Jahrhunderts zunächst noch keine Waffen, sondern vielmehr Kolonial- und Materialwaren. Der experimentierfreudige und gelegentlich leichtgläubige Gründer Friedrich Krupp musste auf dem wenig erprobten Feld der Eisen- und Stahlverarbeitung zahlreiche Rückschläge hinnehmen, die sein beträchtliches Erbe zusehends zusammenschmelzen ließen. Auch sein Sohn und Erbe Alfred Krupp, der die Gussstahlfabrik mit weniger als zehn Mitarbeitern weiterführte, wandelte immer wieder am finanziellen Abgrund; er profitierte jedoch seit den 1840er-Jahren primär von dem Leitsektor der deutschen Industrialisierung: dem Eisenbahnbau. Bis zu Alfred Krupps Tod 1887 stieg die Zahl der Beschäftigten auf über 20.000.

Das zunächst organische und wenig funktionale Wachstum der Stahlriesen erinnert an den immer noch ungebändigten Wildwuchs in der Chip- und Computerbranche unserer Zeit. Das Neue unter allen Umständen zu wollen und zu wagen, zeichnete Vater wie Sohn aus und reiht sie ein in den Typus des (früh-) industriellen Unternehmensgründers, dessen durchaus widersprüchliche Merkmale Lothar Gall differenziert herausarbeitet. Bei aller Modernität, die Krupp wie kaum ein anderes Unternehmen des 19. Jahrhunderts symbolisiert, blieben Friedrich und dann vor allem Alfred Krupp in ihrem Denken ständisch-vorbürgerlichen Vorstellungen verhaftet. So ist ihre berühmte soziale Fürsorge, die den Bismarck’schen Sozialversicherungen in vielen Belangen vorauseilte und auch in Krisenzeiten nicht aufgegeben wurde, untrennbar mit dem patriarchalischen Führungsstil dieses wirtschaftsbürgerlichen Unternehmerschlages verbunden. Die vergleichsweise hohen Löhne, die vorbildliche betriebliche Krankenversicherung, der an der Wende zum 20. Jahrhundert intensivierte Werkswohnungsbau, die Arbeiterpensionskasse, die Konsumanstalten, die Werksbücherei – all dies korrespondierte mit scharfer politischer Gesinnungskontrolle und sozialer Disziplinierung; Sozialdemokraten und Unpünktlichkeit wurden nicht geduldet.

Bereits 1851 präsentierte Alfred Krupp auf der Londoner Weltausstellung das, was zum Markenzeichen der Firma avancieren sollte: eine riesige Gussstahlkanone. Ein Großauftrag von 1859 ebnete Krupp schließlich den Weg zum herausragenden preußisch-deutschen Waffenlieferanten. Häufige, auch kurzfristig gewährte Audienzen bei Wilhelm I. zeugen von der Staatsnähe des 1861 zum Geheimrat ernannten Alfred Krupp. Die bei diesen Gelegenheiten wiederholt abgelegten nationalen Lippenbekenntnisse hinderten ihn aber dann keineswegs daran, auch andere Staaten zu beliefern, so daß Kriegsparteien nicht selten mit Kruppschen Kanonen aufeinander schossen. Leider erfährt der Leser nur wenig über die familiären Verhältnisse im Hause Krupp - hier schweigen die Quellen offensichtlich. Getrübt war nicht nur die Beziehung des arbeitswütigen Patriarchen Alfred zu seiner feinfühligen Frau Bertha - sie verließ 1882 ihren Mann und die repräsentative Villa Hügel -, sondern auch zu seinem Sohn Friedrich Alfred. Diesem fiel es zunächst sichtbar schwer, das Erbe seines Vaters anzutreten: In seiner Ära mehrten sich die kritischen Stimmen über die Bevorzugung des Unternehmens bei der Erteilung staatlicher Aufträge, und vor allem das politische Engagement Friedrich Alfreds als freikonservativer Reichstagsabgeordneter zerrte die Firma in die Öffentlichkeit. Die mutmaßlichen pädophilen Neigungen ihres Chefs taten ein Übriges. Sein geheimnisumwitterter Tod eröffnete schließlich den Weg in eine Aktiengesellschaft, an deren Spitze zwischen 1909 und 1919 Alfred Hugenberg als Direktoriumsvorsitzender stand, der Weimarer Pressezar und Steigbügelhalter Hitlers.

Ihre unbestreitbaren Vorzüge entfaltet die Studie in den Passagen, in denen der Verfasser an seine bisherigen Forschungsschwerpunkte anknüpft und gesellschaftliche Tendenzen am Beispiel Krupps erläutert – allen voran die Frage nach der bürgerlichen Herkunft jener risikobereiten Einzelgänger, die am Beginn der deutschen Industrialisierung die Grenzen des bis dahin Denkbaren sprengten. So fügt Gall die Geschichte Krupps ein in viele Entwicklungen der Epoche: Die Firma erhielt nur ein Jahr nach der Reichsgründung eine betriebliche Verfassung, das so genannte Generalregulativ, das als Organisationsstatut alle strittigen Fragen regeln und die monarchischen Vorrechte des Firmeninhabers zementieren sollte. Zudem gehört die zeittypische Überbetonung des Militärischen mit all ihren schrecklichen Konsequenzen in diesen Kontext: Für Krupp waren damit gewaltige Rüstungsgewinne verbunden, die im Ersten Weltkrieg nochmals enorm stiegen.

Lothar Galls auf umfangreichem Archivmaterial fußende und insgesamt lesbare Studie hebt sich wohltuend von vielen Unternehmensgeschichten ab, die das Unbequeme ausblenden. Der neugierige Leser darf gespannt sein, denn ein weiteres Buch soll sich in naher Zukunft der verschlungenen und belasteten Geschichte der Krupp AG im 20. Jahrhundert widmen.

Lothar Gall: „Krupp. Der Aufstieg eines Industrieimperiums“. Siedler Verlag. Berlin 2000. 368 Seiten. 49,90 DM