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WENN OPFER ZU TÄTERN WERDEN, SIND DIE ANSTÄNDIGEN RATLOSDas Schweigen der Kommentatoren

Eine Gruppe junger Männer beschimpft und bedroht einen 15-jährigen Vietnamesen. Dieser wehrt sich und sticht mit Küchenmessern zu. Zurück bleiben: ein Toter, ein Schwerverletzter und eine Kleinstadt, die um ihren Ruf fürchtet, eine rechte Szene, die ihren Märtyrer hat, und asiatische Familien, die aus Angst vor der Rache der Rechtsextremisten fliehen. Das alles könnte so viel erzählen über dieses Land, seine Menschen und seine Fremden. Darüber, wie schnell ein ziviles Miteinander umschlägt in blutige Aggression.

Im Augenblick erzählt der „Fall Bernsdorf“ aber etwas ganz anderes: Seit Tagen schweigen die Medien beharrlich. Was ist passiert? Hat die mutigen Kommentatoren, die noch vor kurzem so starke Worte gegen angeblich hohle Glatzköpfe und die ach so fürchterliche NPD gefunden haben, plötzlich der Mut verlassen? Haben Ulrich Wickert, Michel Friedman, Sabine Christiansen und Cem Özdemir etwa Angst, der junge Vietnamese könnte ihre Aufforderungen und Ermunterungen zum Widerstand gegen Rassisten allzu wörtlich genommen haben? Oder kommen sie nicht zurecht damit, wenn bedrängte Ausländer zu Tätern und Skinheads zu Opfern werden?

Die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus erlahmt regelmäßig, wenn zur Kenntnis genommen werden muss, dass das Leben eben viel komplizierter ist als das Salongespräch. Da ist Rassismus kein Thema mehr, nur weil sich das Freibad in Sebnitz nicht als die ostdeutsche Hölle erwiesen hat, die man imaginierte. Da wird Antisemitismus zu einer geringeren Herausforderung, nur weil manche wie in Düsseldorf zur Kenntnis nehmen müssen, dass Antisemitismus ein weit größeres Problem ist, als die deutsche Bauchnabelschau das für möglich hält.

Dieses schnelle Verstummen folgt aus der sträflichen Reduzierung der Debatte auf das Verbot der NPD. Wer, wie die Bundesregierung, die NPD zum zentralen Problem hochredet, der verantwortet das Ende der Diskussion, wenn sich – wie geschehen – erweist, dass es noch andere Schuldige und Akteure als den einmal ausgemachten Bösen gibt. Rot-Grün hat nicht begriffen, dass moderne Gesellschaften vor einer neuen Herausforderung stehen: Sie reicht von den NPD-Aktivisten über die „männliche“ Reaktion eines gekränkten Vietnamesen bis hin zu den Spielarten des Rassismus von Einwanderergruppen. Das macht die Sache weniger eindeutig, kommt der Wirklichkeit aber näher als die Debatte der letzten Monate. EBERHARD SEIDEL

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