Das mussten wir dann wegfegen

Bitte, bitte eine Weihnachtsanekdote: Kurz vor Heiligabend auf dem Berliner Bahnhof Zoo, auf der Suche nach Kitsch, Stress und Andacht

von ANDREAS BECKER

Zwei Weihnachtsmänner kommen aus einem alten Berliner S-Bahn-Zug und begrüßen Kinder. Die S-Bahn macht Weihnachten zur Schienenperformance. Stolz verkündet man in der Kundenzeitung 3-punkt: „Rund drei Wochen sind die Weihnachtsmänner vom Dienst bereits unterwegs. Im normalen Leben sind sie Mitarbeiter der Bahn.“

Wie sieht das „Dienstleben“ zu Zeiten aus, in denen Unmengen von Reisenden sich an ICE-Türen knubbeln, im Zug, verzweifelt und mit riesigen Geschenktaschen, ihren reservierten Platz nicht finden? Bei der Bahn muss alles den Dienstweg gehen. Vor Jahren schon wurde ich von Sicherheitsleuten aus dem Bahnhof Zoo geworfen, weil ich es gewagt hatte, ohne Genehmigung eine Umfrage zu starten. Einfach so mit einem Schaffner auf Reisen sprechen – das können nur gewitzte Undercoverrechercheure. Also arrangiert Pressemann Achim Stauß vom „Regionalbüro Kommunikation“ ein Treffen mit einem Servicemitarbeiter.

Michael Krummel steht in seiner blauen Bahnerjacke neben dem noch recht jungen, lockigen Zweimetermann Stauß am „Service-Point“ im Bahnhof Zoo. Es ist der Donnerstag vor Weihnachten, noch ist der Andrang in der Halle überschaubar. „Ab morgen geht's richtig los“, sagt Krummel, der normalerweise direkt auf dem Bahnsteig arbeitet. Dann trägt er eine knallrote Mütze, auf der „Service“ draufsteht. Krummel und Stauß wollen mir den ganzen Bahnhof zeigen. Immer wieder versuche ich ihnen weihnachtstypischen Anekdoten zu entlocken, frage, ob jemand schon mit Tannenbaum im ICE-Gang steckengeblieben sei. Das passiere eigentlich fast nur im Regionalverkehr, aber ob wir den nicht erst mal das schöne Reisezentrum angucken sollen.

Stolz zeigt Stauß auf die Schlangen an den über 30 Schaltern: „Sehen Sie, wir haben ein neues System eingeführt, jetzt steht der Kunde für fünf Schalter gleichzeitig an, das ist gerechter.“ Aber ich solle „meine Leser“ doch auf alle Fälle darauf hinweisen, dass es Tickets auch im Reisebüro gibt. Und dann sein da ja noch die tollen neuen Automaten direkt hinter uns. Die beiden versuchen im Kopf die Automaten zu zählen, „zwölf, nee vierzehn, ach da sind noch zwei . . .“

Dann wollen sie mir den Bahnsteig zeigen. Die Rolltreppe ist blockiert. Sofort besorgt Krummel einen Spezialschlüssel, wirft das Ding wieder an. Oben steht gerade ein ICE nach Frankfurt. „Ein Zweier“, wie die Experten sofort erkennen. Einer von den Zügen, die in der Mitte geteilt werden können. Der wird sicher mit Verspätung starten, mutmaßen wir, die Türen seien eigentlich zu schmal konstruiert, meint Krummel. „Eine Minute zu spät“, konstatiert Stauß bei der Ausfahrt.

Wieder versuche ich es mit Weihnachten, eine klitzekleine Anekdote? Krummel überlegt. „Also, vor ein paar Jahren, es war ein Nachtzug, ein ICN, da hatte einer ne richtige Mülltonne dabei. Der hat eine große, saubere Mülltonne mit Rädern als Koffer benutzt. Hat mich sogar reinschauen lassen. Aber, ob das Weihnachten war?“

Eine ältere Frau kommt auf uns zu, fragt wo Wagen 33 sei. Direkt hinter ihnen, sagt Krummel freundlich. Er kennt die Wagenstände der meisten Züge auswendig. Wenn man einmal das System durchschaut hat, sei das gar nicht so kompliziert.

Zwölf Züge fahren in der Stunde über die verschlungene Berliner Stadtbahn, die so viele Kurven hat, weil einst ein Fluss für sie zugeschüttet wurde. Alle fünf Minuten ein Zug. Sobald einer Verspätung hat, kommt der Ablauf durcheinander. Das passiert aber gar nicht so häufig, wie viele meinen. Im Moment gebe es eigentlich nur Probleme mit den Eurocitys von Prag nach Hamburg. Wegen einer Baustelle hinter Dresden gibt's öfter eine halbe Stunde Verspätung.

Ob die Leute nicht gerade zu Weihnachten besonders gestresst seien, will ich wissen. Eigentlich nicht, meint der Servicemann, „das hängt viel mehr vom Wetter ab. Bei Nässe und Kälte, wie heute, sind die Fahrgäste schnell genervt.“

Manche wollen von ihm wissen, wo im Zug noch Platz sein könnte. Das kann er als Bahnsteigaufseher, wie es früher hieß, natürlich nicht wissen. Aber die Verspätungen des Zuges, die kriege er vorzeitig mit. Krummel führt mich in sein Allerheiligstes, die Aufsicht, den Glaskasten, von dem aus man den Superüberblick hat. „Einen Moment Ruhe, mein Kollege muss eine Ansage ins Mikro sprechen.“ Auf vier Monitoren können wir die Ausfahrt eines Regionalexpresses nach Cottbus verfolgen.

Und dann sind da noch die zwei Computer, die anzeigen, wo die Züge sich gerade befinden – und ob sie im Plan liegen. „Der IR hier hinter Wannsee, der hat zwei Minuten Verspätung.“ Eine 002 leuchtet neben gelben und roten Balken. Mehr Toleranz fordert Krummel, „man müsste mehr Toleranz im Fahrplan haben“. Jetzt sind wir fast auf die Sekunde genau eine Stunde im Bahnhof Zoo, Stauß schaut auf die Uhr, er habe da noch einen Termin.

Jetzt endlich Zug fahren. Schnell springe ich in einen ICE, der vorbei am Loch des neuen Lehrter Bahnhofs zum Ostbahnhof rollt. Lustig, dass Krummel meinen Zug auf seinem PC sehen kann. Am Ostbahnhof endlich extra montierte kleine Tannenbäume über den Zuganzeigern und geschmückte Bäume in den Servicehäuschen und Weihnachtssterne auf den Fensterbrettern. Und endlich ein Zeugnis für eine fast schon okkulte Weihnachtsverehrung bei der Bahn: superkitschig und schön, eine durchsichtige, gelb leuchtende Plastikwurst, die sich neben Tannengrün im Fenster zu einem Herz formt.

Hier kennt sogar der Müllmann der privaten Reinigungsfirma eine andächtige Weihnachtsgeschichte. Letztes Jahr hätten Jugendliche mit Weihnachtsbaumkugeln auf dem Bahnsteig Fußball gespielt. „Das mussten wir dann wegfegen. Sonst war nischt.“