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Das Spiel mit der Gefahr

Berliner nehmen vieles auf die leichte Schulter: Die Wahrscheinlichkeit, vom Auto überfahren, vom Akohol zerfressen oder vom Fett erdrosselt zu werden, ist hoch – doch BSE hält die Stadt in Atem

von HERTHA HAUSMACHER

Die Wurstsenatorin warnt: Wurst, das Abfallprodukt der Fleischerzeugung, enthält Abfälle. Und manchmal wird in den Kunstdarm, dem Müllsack der Schlachthöfe, eben auch Rindermüll gefüllt – selbst wenn es auf der Verpackung gar nicht steht. Bisher war das sowieso egal: Dem Currywurst-Berliner kam es ohnehin nur auf den Geschmacksverstärker an. Produkte, denen man die Herkunft halbwegs ansieht – Schinken oder Bratenaufschnitt beispielsweise – verschmähte er lieber. Schließlich will er sich durch nichts daran erinnern lassen, dass er Tierkadaver zu sich nimmt.

Jetzt auf einmal holt ihn die Erinnerung ein, die Geschmacksverirrung wird zum Skandal, und die Stadt verfällt dem Winterwahn. Bei Schnee und Eis verunglückt, die Leber vom Alkohol zerfressen, das Herz vom Fett erdrosselt – all dies schreckt die Berliner überhaupt nicht mehr. Sie kennen keine Risiken mehr, sie kennen nur noch BSE. Dabei ist von den 35.000 Todesfällen, die sich pro Jahr in der Stadt ereignen, bislang kein einziger nachweislich auf den Genuss von Rindfleisch zurückzuführen.

Schon in den Regalen der Supermärkte lauern weit größere Gefahren. Vor allem den Milchprodukten, zu denen die BSE-Hysteriker jetzt Zuflucht nehmen, fallen weit mehr Menschen zum Opfer. Fast jeder zweite Berliner stirbt, weil Herz und Kreislauf ihm den Dienst versagen. Risikofaktor Nummer eins ist der übermäßige Konsum von tierischem Fett – und davon ist in Butter oder Käse, Sahne oder Vollmilch weit mehr enthalten als in magerem Fleisch. Doch davon lässt sich niemand beeindrucken: In manchen Geschäften werden die Käseprodukte vor lauter Rinderwahn schon knapp.

Auch der notorische Vergleich mit den Verkehrstoten, bei jedem Lebensrisiko gern herangezogen, beeindruckt in diesen Tagen niemanden. Warum auch? Das Steuer, so glauben die meisten Autofahrer, haben sie schließlich fest im Griff. Von den Umtrieben sinistrer Tiermehlfabrikanten und obskurer Prionen haben sie hingegen keine Ahnung. Gerade dass noch niemand weiß, was es mit BSE wirklich auf sich hat, macht die Faszination des Erregers aus.

Die Wirkungen des Alkohols sind hingegen ziemlich gut erforscht, und schon deshalb schrecken die 746 hauptstädtischen Schnapsleichen pro Jahr niemanden. Die Asbach-Flaschen an der Kasse muss man nicht in einer Tübinger Forschungsanstalt auf ihre Gefährlichkeit testen lassen: Dass sie tödlich wirken, weiß man auch auch so. Würde die Gesundheitssenatorin die Pullen aus dem Verkehr ziehen, spräche Berlin wohl von einer Schnapsidee.

Rund zwanzig Menschenleben jährlich fordert das hauptstädtische Baugeschehen. Doch solange nur die Arbeiter selbst vom Gerüst stürzen, interessiert sich dafür kein Mensch. Als vor fünf Jahren erstmals eine Passantin auf offener Straße von einem Stahlträger erschlagen wurde, gab es eine kurze Debatte. Danach war die Sicherheit von Baustellen kein Thema mehr.

Generell gilt: Gefährlicher als das Rind ist noch immer der Mensch. Sich mit einem Artgenossen einzulassen, bleibt eine waghalsige Entscheidung: Die 71 Morde, die 1999 in Berlin verübt wurden, waren mehrheitlich Beziehungstaten. Dabei geraten bisweilen auch Unbeteiligte in Gefahr, wie der Anschlag auf einen Schöneberger Kosmetiksalon vor zwei Wochen zeigte.

Das Leben in der Großstadt bleibt eben ein Roulettespiel, und die Gefahren lauern überall. Doch die vielen Gefahren, denen sie täglich ausgeliefert sind, ignorieren die Berliner lieber – und diskutieren stattdessen, ob eine Bundesministerin ein paar Stunden früher hätte feststellen müssen, dass sie gewisse Fleischkonserven gar nicht aus dem Verkehr ziehen darf, obwohl sie möglicherweise gefährlich sind. Aber vielleicht ist das alles ja nur eine Form der Verdrängung.

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