Der Neue Markt plündert seine Kinder

Erst wuchsen alle Bäume in den Aktienhimmel, jetzt herrscht Panik: Die Firmen am Neuen Markt lernen, dass die Börse auch Kapital vernichtet. Programme schreiben reicht nicht. Man muss auch Buchhaltung beherrschen

BERLIN taz ■ Warnungen gab es genug. Bereits seit einem Jahr mahnen besonnene Analysten, dass die Kurse am Neuen Markt in Frankfurt nicht ewig in die Höhe schießen würden. Ein Drittel der etwa 60 Internetwerte werde bald das Geld ausgehen, fanden die Experten der Unternehmensberatung PriceWaterhouseCoopers im Juli. Im Spiegel pries eine Analystin dagegen „solide Unternehmen“ am Neuen Markt. Zum Beispiel Intershop.

In der Tat gehört das Unternehmen aus Jena zu den „Blue Chips“. Die Firma mit 1.000 Beschäftigten zwischen Jena und San Francisco machte im letzten Jahr aber knapp 250 Millionen Mark Umsatz – und etwa 75 Millionen Mark Verlust. Diese Ankündigung ließ den Kurs der Aktie vorgestern um 70 Prozent auf knapp 10 Euro fallen, gestern noch einmal um 24 Prozent auf 7,40 Euro. Die Stimmung bei den Anlegern war mies: Wenn es schon eine der soliden Firmen so hart erwischt, was passiert dann erst mit den anderen Werten?

Dabei interessieren die tatsächlichen Daten wieder nur am Rand. Denn der Neue Markt ist nicht die reine Zockerbörse, für die er gehalten wird. 60 Prozent der Unternehmen dort schreiben nach Angaben der Deutschen Bank schwarze Zahlen, nur zwei haben bisher Pleite gemacht. Die Unternehmen müssen ihre wirtschaftlichen Daten nach dem strengen amerikanischen Regeln transparent machen. Trotzdem „übertreiben die Anleger und verkaufen in Panik“, sagt Wolfgang Gerke, Professor für Bank- und Börsenwesen an der Uni Erlangen. „Genauso wie sie vor einem Jahr ins Positive überdreht haben.“ Bis zum Februar/März 2000 stiegen die Kurse am Neuen Markt fast senkrecht in die Höhe. „Es war immer klar, dass die Technologietitel überbewertet waren“, sagt Gerke.

Niemand weiß, warum die Stimmung im Frühjahr 2000 kippte. „Die Leute haben wieder auf die Fakten geguckt“, meint Julie Statham vom Equity Research der Deutschen Bank. Dann, so Gerke, kam im Sommer die Versteigerung der UMTS-Lizenzen mit Milliardenbelastungen für die glücklichen Gewinner.

Schließlich ging im September die Gigabell AG pleite; wenig später brach der Aktienkurs des Börsenstars EM-TV ein – wegen eines Rechenfehlers in der Bilanz. Der Neue Markt verdiente sich ein neues Image: Firmen, die zwar Programme schreiben können, aber die Buchführung nicht beherrschen.

„High Risk, High Return für die Anleger“, sei die Devise des Neuen Marktes, sagt Ursula Schneider von der Deutschen Börse AG. Das hat sich nun umgedreht: Der Neue Markt, 1997 extra geschaffen um kleinen Firmen Kapital zu verschaffen, plündert seine Kinder. Plötzlich merken auch die Startups, dass die Börse nicht nur Geld liefert, sondern es auch vernichten kann. BERNHARD PÖTTER