: Die schwierige Integration in die Leidkultur
Wirtschaftsverbände fordern weitere Zuwanderer, mehrere politische Kommissionen beraten über ein entsprechendes Gesetz. Seit 40 Jahren begleitet Heinz Seidel, Leiter des Ausländerreferats der Bundesanstalt für Arbeit, die Migrationsprozesse. Er ist Experte und kritischer Beobachter
Interview MARIE-LUISE GRIES
taz: Das Ausländerreferat der Bundesanstalt für Arbeit (BA) hat eine Fülle von Aufgaben im Bereich Zuwanderung, Integration und Reintegration. Brauchen wir eigentlich ein Einwanderungsgesetz?
Heinz Seidel: Aus meiner Sicht hätten wir dieses Einwanderungsgesetz schon spätestens 1973 haben müssen, bei der Verkündung des Anwerbestopps. Sehr wichtig wäre für mich gewesen, klare Bedingungen zu setzen: Wie geben wir den hier lebenden Ausländern Chancen, sich sprachlich und beruflich einzugliedern?
Warum ausgerechnet seit dem Anwerbestopp?
1973 ist für uns das Jahr eines absoluten Umbruchs. Wir haben zwischen 1956 und 1973 in einer äußerst aktiven Weise Anwerbung und Vermittlung ausländischer Arbeitnehmer betrieben, rund ums Mittelmeer in einem Netz von Dienststellen der Bundesanstalt. Wir haben dort die drängenden Angebote der deutschen Unternehmer aufgenommen und mehr als 2,5 Millionen Arbeitsvermittlungen nach Deutschland durchgeführt. Im November 1956 fingen wir in Italien an, und 1973 im November mit dem Anwerbestopp haben wir damit aufgehört.
Weil keine Arbeitskräfte mehr gebraucht wurden?
Begründet wurde der Anwerbestopp damals mit den Ölpressionen der Opec-Staaten. Aber im Grunde genommen ist er durch den Bundesarbeitsminister Ahrend als Signal benutzt worden, weil er sah, dass wir in überlasteten Siedlungsgebieten zu großen sozialen Problemen kommen. Dieser Anwerbestopp hat das zuvor aktive Handeln der Bundesanstalt völlig umgedreht in ein dann leider passives Handeln.
Und nun soll wieder aktive Anwerbepolitk betrieben werden?
Ja, nun wird wieder von der Wirtschaft der Zugang neuer Arbeitskräfte gefordert. Übrigens hatten wir 1973 seitens der Bundesanstalt für Arbeit vorgeschlagen, die Dienststellen nicht vollständig aufzulösen, sondern kleinere Vertretungen dort zu belassen, für eine moderne Mobilitätsberatung, wie wir sie heute verstehen. Dieser Vorschlag der BA ist abgelehnt worden, weil das angeblich als ein Signal verstanden worden wäre, dass wir irgendwann wieder aktive Anwerbepolitik betreiben wollen.
Welche Folgen hatte der Anwerbestopp?
Vor allem ein riesiges politisches Missverständnis: Viele glaubten, gemeint sei nun „Stopp mit den Ausländern in Deutschland“, also würden jetzt alle zurückkehren. Aber die Ausländer selbst haben das anders aufgefasst. Sie haben gesagt: „Wenn wir jetzt zurückkehren, dann haben wir keine Chancen mehr, irgendwann wiederzukommen. Also bleiben wir und holen auch die Familie hierher.“ Damit war der Versuch, keine weiteren Arbeitskräfte zu bekommen, genau ins Gegenteil verkehrt. Damals haben wir versäumt, die Leitlinien zu setzen für eine vernünftige sprachliche und berufliche Integration.
Wieso hat man nicht vorausgedacht?
Wir haben uns zwischen 1973 und 1982/83 einen politischen Streit geleistet zu der Kernfrage: Integration oder administrative Steuerung der Rückkehr dieser Leute? Dieser politische Streit ist letztlich erst 1982 durch die Erklärungen des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Heinz Kühn gelöst worden: Die Ausländer, die legal gekommen sind, werden wir nicht zwangsweise zurückschicken können, also müssen wir sie integrieren.
Aber zunächst wurde das Gesetz zur Förderung der Rückkehrbereitschaft verabschiedet.
Ja, 1983; eine Erfüllung der Regierungserklärung der damaligen Regierung. Wir haben finanzielle Angebote für freiwillige Rückkehrer gemacht: 10.000 Mark plus Zuschläge für Kinder, die mit zurückkehren sollten.
Diese finanziellen Rückkehranreize gab es nur ein Jahr lang. Weil es „falsch“ lief?
Man gab sich bis zum Schluss überzeugt, doch einiges in Gang gesetzt zu haben. Aber dass dieses Gesetz ein Erfolg gewesen sei, das bezweifle ich nach wie vor. Wir haben zwar, wenn man so will, durchaus einige statistische „Erfolge“ gehabt, in Anführungsstrichen. Wir haben aber auch sehr viel Leid verursacht. Ganze Familien sind geschlossen zurückgekehrt, ganz gleich ob die Kinder, die hier in Schule und Ausbildung waren, auch zurückkehren wollten. Wir wissen von vielen Fällen, wo das zu schweren familiären Zerwürfnissen und Problemen geführt hat.
Was wurde denn aus der Erklärung, die legal Eingewanderten hier zu integrieren?
Es gibt seit dieser Zeit eine große Zahl von Bemühungen, Angebote zur Integration zu machen. Der Bundesarbeitsminister hat umfangreiche Maßnahmen zur Integration ergriffen. Auch der Sprachverband Deutsch für ausländische Arbeitnehmer ist in dieser Zeit gestärkt worden. Aber es war kein politisches Konzept dahinter, nun wirklich wie in einem Baukastensystem Angebote zu machen, um sprachliche und berufliche Integration umfassend zu realisieren. Verbal ist das in Sonntagsreden von Politikern immer verkündet worden, ohne dass sie eine entscheidende Konzeptarbeit hätten umsetzen können. Ein riesiger Fehler, von dem ich beinahe vermute, dass er in Zukunft wiederholt wird.
Derzeit ist ein Einwanderungsgesetz in Arbeit. Macht man es jetzt besser als früher?
Das ist die große Frage, wir sind jetzt ja wieder in einem großen Umbruch. Nach dem Anwerbestopp 1973 haben wir eine sehr rigorose, restriktive Zuwanderungspolitik betrieben. Das drückt sich aus in der Anwerbestopp-Ausnahmeverordnung: Nur wenn eine definierte Ausnahme gegeben ist, kann überhaupt eine Zulassung aus Drittstaaten erfolgen. Jetzt wird uns das ursprünglich politisch Gewollte zum Vorwurf gemacht: dass wir „unflexibel“ auf Bedürfnisse des deutschen Arbeitsmarkts reagiert hätten.
Und wie sind ausländische Jugendliche hier in den Arbeitsmarkt integriert?
Bei ausländischen Jugendlichen, bei türkischen zum Beispiel, geht der Anteil der 15- bis 18-Jährigen an der Ausbildung eher zurück. Insgesamt gesehen werden ausländische Jugendliche in Berufen ausgebildet, die nicht unbedingt Zukunftsperspektiven haben. Es stellt sich doch auch die Frage, ob sich nicht Arbeitgeber, bevor sie jetzt die Hereinnahme neuer Ausländer verlangen, erst mal den Gruppen zuwenden sollen, die hier der Ausbildung und Weiterbildung bedürfen. Und davon haben wir eine ganze Menge.
Sollten wir also Ihrer Ansicht nach, bevor wir jetzt den Wünschen der Wirtschaft in breitem Umfang nachgeben, erst mal unser Haus hier in Deutschland in Ordnung bringen und denen, die hier sind, eine reale Chance geben?
Ja, das meine ich. Wir haben in Deutschland einen festen Block von fast 450.000 ausländischen Arbeitslosen; die Anteile von Langfristarbeitslosigkeit nehmen zu. Über 80 Prozent der ausländischen Arbeitslosen haben keinen formellen Berufsabschluss, sind eher ungelernt. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hat sich für Ausländer bei erheblicher Zunahme des Arbeitskräfteangebots in den letzten 15 Jahren wesentlich verschlechtert. Die Erwerbsbeteiligung der Ausländer und noch mehr der Anteil der Arbeitsplatzbesitzer ist schon fast dramatisch gesunken. Die ausländischen Beschäftigten sind vom Strukturwandel sehr viel stärker betroffen als die Deutschen.
Alarmierende Befunde also?
Ja. In der Produktion ist die Beschäftigung von Ausländern stark abgebaut worden. Im expandierenden Dienstleistungsbereich ist sie zwar auch bei den Ausländern deutlich gestiegen, allerdings gibt es dort Beschäftigungen, die keine so großen Zukunftschancen haben.
Was halten Sie von der „Leitkultur“-Diskussion?
Das ist eine unsinnige Diskussion. Ich meine, dass wir gerade in den letzten Jahrzehnten eher von einer Leidkultur, mit „d“, sprechen müssen. Denn für die, die Integrationsarbeit leisten wollten, war es oft ein Leid, ein ständiger Kampf um öffentliche Unterstützung und finanzielle Mittel.
Vom ehemaligen Rückkehrförderungsgesetz gilt heute noch Paragraf 7. Er garantiert Rückkehrinteressierten das Recht auf Beratung. Ist das noch zeitgemäß?
Durchaus. Auch bei einer globalen Arbeitswelt haben wir bei Zuwanderungen immer auch Rückwanderungen, und diese Rückwandernden bedürfen bestimmter Hilfen. Das heißt, gleich wie die ausländerpolitischen Entscheidungen der Zukunft sein werden: Wenn wir Zuwanderung gestatten, müssen wir auch denjenigen, die nach einer bestimmten Zeit wieder zurückwollen in die Heimat, beraterische und auch finanzielle Hilfen anbieten, um ihre Reintegration zu unterstützen.
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