Heute gibt’s Nachtisch

Wahre Lokale (53): Die offiziell „Kasino“ genannte NDR-Kantine in Hamburg-Lokstedt

Wie ein Lauffeuer verbreitet sich von Lokstedt aus in ganz Hamburg die frohe Kunde

Durchgehend von morgens neun bis in die Puppen geöffnet, erlebt die Kantine des Norddeutschen Fernsehens in Hamburg-Lokstedt ihren größten Ansturm zwischen zwölf und zwei Uhr mittags. Dann drängt die NDR-Mitarbeiterschaft geschlossen „zu Tisch“, wie eventuellen Anrufern von den studentischen Hilfskräften beschieden wird, die während dieser Zeit in den verwaisten Redaktionen Telefondienst schieben. Die fernsehjournalistische Arbeit ruht unterdessen; oder wie intern die mittägliche Stillzeit beflachst wird: „Recherche hat Ruh.“

Lediglich die „Tagesschau“ bleibt kompetent besetzt; so verlangt es ein hartnäckig sich haltender Aberglaube, wonach in China angeblich ein Sack Reis umfällt, sollte „Deutschlands wichtigste Nachrichtenredaktion“ (NDR) einmal unbemannt sein. Täglich wird deshalb ein Redakteur über Mittag zwangsverpflichtet. Sein Essen, traditionell eine Portion lecker Bratfisch an einer extra krossen Panade, bekommt er vom jeweils Dienst habenden „Tagesschau“-Sprecher an den Arbeitsplatz geliefert.

Heute ist Jo Brauner dran. Während der allseits geschätzte Nachrichtensprecher den Bratfisch sehr gekonnt und einhändig auf einem Teller quer durch die Kantine balanciert, fliegen ihm allerlei launige Bemerkungen zu: „Nicht kleckern, Jo!“, ruft etwa kichernd „Panorama“-Chef Kuno Haberbusch, und Krimi-Altmeister Jürgen Roland ergänzt drollig: „Lieber kotzen!“ So geht das Defilee des wie immer exakt krawattierten Sprechers vorbei zunächst am Tisch der „Kultur“- Redaktion, der „Feature“-Lounge und dem (heute leider unbesetzten) Intendantenthron. Dann passiert „Bratfisch-Brauner“, wie „Tagesthemen-Wickert“ jetzt Gelächter heischend zum Tisch der gackernden Cutterinnen rüberzwinkert, den „Kindergarten“, so man den seit 1848 festen Stammplatz der satyrischen „Extra-Drei“-Redaktion heißt, sowie den so genannten Katzentisch, an dem nach alter Senderväter Sitte die Quotenversager des Vortages – heute trifft es mal wieder das Nachmittagsprogramm – Platz nehmen müssen. Dann aber ist Brauner endlich (und zwar „bevor der Fisch ganz tot ist,“ wie Chef-Hofberichterstatter Rolf Seelmann-Eggebert jeden Mittag launig auszurufen pflegt) durch und raus aus der Kantine und auf dem schnellsten Weg rüber in die „Tagesschau“-Redaktion.

Indes wird’s mucksmäuschenstill in der offiziell „Kasino“ geheißenen NDR-Kantine. Denn jetzt gibt Fernsehdirektor Dr. Jürgen Kellermeier den heutigen Speisenplan bekannt. Schon flackert das stets etwas gerötete Gesicht des sympathischen Hierarchen vom Direktorentisch herüber: „Mahlzeit, Leute!“, ruft er dann zunächst, und sehr stimmgewaltig beantwortet die Belegschaft seinen Gruß im Chor: „Mahlzeit, Herr Fernsehdirektor!“ Kellermeier schwenkt den Speisenzettel: „Heute gibt’s Rostbratwurst mit Sauerkraut“, platzt er dann in die gespannte Stille, „wahlweise auch mit Rosenkohl.“ Im Saal beginnt’s durchaus zustimmend zu murmeln. „Dazu werden“, fährt Kellermeier fort, „Petersilienkartoffeln gereicht an einer braunen Soße – und natürlich reichlich Senf“, ergänzt er schmunzelnd, und das ist, wie allgemein bekannt, ein gutes Zeichen. Ein schmunzelnder Kellermeier nämlich bedeutet, dass die gestrige Gesamtquote über zehn Prozent lag, und was das heißt, ist hier sowieso jedem klar: Nachtisch für alle.

Schon bestätigt der Fernsehdirektor die süße Vermutung: „10,7 Prozent Marktanteil“, triumphiert er. „Ich bin zufrieden, Leute, sehr zufrieden ...“ Der Rest geht im begeisterten Tellerklappern der Belegschaft unter. Schon erhebt sich Senior-Redakteur Rainer Markgraf, um sehr ausdrucksstark die N-3-Hymne anzustimmen. Adlatus Kulms schmettert knödelnd die zweite Stimme, der Nichtraucherbeauftragte Beleites schnalzt mit der Zunge den Takt dazu und beim Refrain schließlich fallen sämtliche Kollegen und Kolleginnen inbrünstig singend mit in den Hymnus ein. So schallt’s denn aus hunderten von Kehlen und weithin hörbar und sogar übers NDR-Studiogelände hinaus bis in die Lokstedter Nachbarschaft hinein: „Quote, Quote halleluja!“ Wie ein Lauffeuer verbreitet sich darauf von Lokstedt aus in ganz Hamburg die frohe Kunde, dass es heute wieder mal Nachtisch gibt beim Norddeutschen Fernsehen. FRITZ TIETZ