: Verspätete Racheengel
Wie anlässlich einiger Jugendfotos des Außenministers versucht wird, die damalige linksradikale Protestbewegung abzuschlachten. Eine kleine Rettung der Tatsachen
Als langjähriger Mitarbeiter der taz habe ich es gelernt, mich mit Berichten über einstige Straßenschlachten zurückzuhalten. Der Veteran, der mit „Heldentaten“ prahlt – er gibt stets und zu Recht eine lächerliche Figur ab. Noch lächerlicher jedoch erscheint mir der Versuch, einen Streetfighter von damals und Würdenträger von heute mit dreißigjähriger Verspätung anzuklagen. Mit vor Empörung zitternder Stimme zu erklären, so jemand gehöre nicht an die Spitze des Außenministeriums. Oder ihm und seinen Genossen von damals heute kurzerhand ein selektives Gedächtnis, eine „heroische Verniedlichung“ seinerzeitiger Taten zu unterstellen.
Es waren die ehemaligen Linksradikalen selbst, die in den 80er-Jahren versucht haben, öffentlich über ihre einstigen revolutionären Ziele und über ihre Kampfformen nachzudenken. Es gibt zu diesem Thema Protokolle, Aufsätze, die zur Kenntnis zu nehmen der Historiker Götz Aly allerdings nicht für nötig fand (Berliner Zeitung vom 8. 1.). Statt sich um eine genaue Analyse des Gewaltklimas der 60er-Jahre zu bemühen – der Gewaltspirale, die sich bis zur RAF und bis zum Sicherheitsstaat der 70er-Jahre hochdrehte –, finden wir bei Aly ein paar Anekdoten und Hintertreppengeschichten, selbstverständlich ohne Namensnennung der Akteure.
Wie Götz Aly übt sich auch Thomas Schmid, im linksradikalen Frankfurt von damals kein ganz Unbekannter, im Geschäft des 68er-Bashing (FAZ vom 5. 1.). Natürlich wahrt auch er vornehme Diskretion über seine einstige Rolle. Was an diesen beiden Stellungnahmen ehemaliger radikaler Linker aber wirklich deprimiert, ist die gänzliche Abwesenheit des historischen Blicks, die Preisgabe aller analytischen Kategorien, die auf die Erklärung gesellschaftlicher Verhältnisse in der alten Bundesrepublik zielen. Stattdessen der staatsanwaltschaftliche Gestus – und der Versuch, die ehemaligen Linksradikalen mit den Nazifaschisten zu identifizieren.
Thomas Schmids Anschuldigungen kulminieren in der These, die Revolte der 60er- und der späten 70er-Jahre habe ein demokratisches Gemeinwesen zerstören wollen. Gerade in diesen Jahren habe die Bundesrepublik ihre Reifeprüfung abgelegt, weil sie einem im Kern totalitären Angriff mit rechtsstaatlichen Mitteln begegnet sei. Um einen Vergleich aus der Überschwemmungsrhetorik zu verwenden: Der linke Radikalismus war die Flut, die Bürger schlossen sich zusammen, der Damm hielt. Jenseits aller Verdachtspsychologie fragen wir einfach, ob Thomas Schmid Recht oder Unrecht hat. Er hat Unrecht.
Als Erstes gilt es, gegenüber dem Vorwurf einer prinzipiellen Demokratiefeindschaft darauf zu beharren, dass der Grundimpetus der außerparlamentarischen Opposition (Apo) auf radikale, auf unmittelbare Demokratie zielte. An die Stelle des „bürgerlichen Parlamentarismus“ samt der Gewaltenteilung sollte das Rätesystem treten. Utopisch? Ja, denn die gesellschaftliche Differenzierung der Moderne sollte durch eine Revolution rückgängig gemacht werden, mit der man die „großen Teilungen“ (zwischen Arbeitern und Intellektuellen, zwischen Stadt und Land, zwischen den Geschlechtern) aufzuheben hoffte. Wenn es einen Satz Lenins gab, der allgemeine Zustimmung fand, dann den, dass auch die Köchin Regierungsgeschäfte wahrnehmen könne. Totalitär? Nein. Denn nirgendwo wurde eine wesensmäßige Identität „des Volkes“ oder „der Arbeiterklasse“ behauptet oder dem „historischen Subjekt“ ein einheitlicher Wille unterstellt, der sich in den Staatsorganen ausdrücke. Erinnern wir uns, dass Hannah Arendt, die Kritikerin des Totalitarismus, Anhängerin des Rätegedankens war und blieb.
Dass der Parlamentarismus seinerzeit verworfen wurde, hat oft erörterte Ursachen: die „große Koalition“ von CDU und SPD, die 1966 beschlossen wurde, und damit das Ende jeder effektiven parlamentarischen Kontrolle. Ferner das Projekt der Notstandsgesetze, mit denen schon „im Spannungsfall“ wesentliche Grundrechte außer Kraft gesetzt werden sollten. Es kommt nicht darauf an, ob diese damaligen Befürchtungen, ob die mit ihnen verbundenen Theorien (etwa von der drohenden Faschisierung) sich später als richtig erwiesen. Es geht um einsehbare Beweggründe.
Kann man einwenden, der radikaldemokratische Impetus sei nur in der Frühphase der Studentenbewegung wirksam gewesen – nicht aber in ihrer Verfallsphase, die angeblich von Aktionismus und Sprachlosigkeit der Linksradikalen bestimmt gewesen ist? Selbst wenn das der Fall gewesen sein sollte, bliebe immer noch zu fragen, was die Gründe dafür waren. Aber diese Annahme trifft gar nicht zu. Noch die Solidaritätsdemonstration für den Apo-Anwalt Horst Mahler, Ende 1968, die später als „Schlacht am Tegeler Weg“ als Terroraktion einer selbst ernannten Avantgarde stilisiert wurde, folgte dem Prinzip demokratischer Beschlussfassung und Kontrolle. Die Aktion wurde von einer tausendköpfigen Versammlung in der TU Berlin beschlossen, auf mehreren nachfolgenden Teach-ins wurde Bilanz gezogen. Keine Jubelfeiern, sondern kontroverse Veranstaltungen – was nicht verwunderlich war angesichts der vielen verletzten Polizisten. Die mit geradezu scholastischer Logik geführte Debatte über „Gewalt gegen Sachen“ gegenüber „Gewalt gegen Personen“ hat nie aufgehört und setzte sich in den sozialen Bewegungen der 70er-Jahre fort, bis sie mit der berühmten „Säule“ der Gewaltfreiheit im Vier-Säulen-Programm der Grünen ihren Abschluss fand.
Es musste einiges geschehen auf der Seite des Staats und seitens der großenteils gleichgeschalteten veröffentlichten Meinung, um aus Kindern des Bildungsbürgertums Anhänger gewaltsamer Aktionen zu machen. Anlässlich der Blockade der Berliner Springer-Druckerei nach dem Attentat auf Rudi Dutschke rief mir eine Studentin, eine sanfte Philologin, atemlos zu: „Ich weiß jetzt, es geht nur mit Gewalt.“ Was als ausgelassenes Spiel 1965 begonnen hatte, als Inszenierung, die lustvoll die Polizei ins Leere laufen ließ, hatte sich zu einem Bürgerkriegsszenario entwickelt. Aber zu einem solchen Szenario gehören zwei. Und es wäre angebracht, hier Ursache und Wirkung nicht gänzlich außer Acht zu lassen. Nie bin ich in dieser Zeit einer existenzialistischen Feier der Gewalt begegnet, nie der Auffassung, Steinewerfen bereichere die Persönlichkeit. Wohl aber wurde die Gegenwehr als Befreiung aus der Ohnmacht gegenüber Gummiknüppeln und Tränengas empfunden. Das war der Kern dessen, was ich 1968 mit der damals typischen hochtrabenden Selbstüberschätzung als „neue Form der Militanz“ bezeichnete.
Natürlich gab es in dieser Bewegung autoritäre Strukturen und „Autoritäten“ wie Rudi Dutschke. Sie wurden nicht nur geliebt, sondern auch ständig bekämpft – und verspottet. Vor allem gab es kein Generalkommando, das war eine Projektion der Presse. Dafür jede Menge Aktions- und Basisgruppen, die selbst bestimmten, welcher Aktion sie sich anschlossen. Wir nannten das Selbsttätigkeit. Und die K-Gruppen, die zu Beginn der 70er-Jahre entstanden, waren nicht die Fortsetzung einer autoritären Struktur. Sie versuchten vielmehr – mit autoritären, also untauglichen Mitteln –, einen Ausweg zu finden aus der Zerfahrenheit der außerparlamentarischen Bewegung, aus der Gefahr der Entpolitisierung. Schließlich galt es, den Campus zu verlassen, das Proletariat zu organisieren.
Die Bewegung, zu der Joschka Fischer sich zählte, war nicht der böse Geist, der schließlich gegen seine Intentionen Gutes bewirkt hat. Sie hat eine noch halb autoritäre, durch und durch im Freund-Feind-Denken und in obrigkeitsstaatlichen Verhaltensweisen erstarrte Gesellschaft umgepflügt. Sie hat Mut zum Widerstand gesät, Zivilcourage hervorgebracht. Die sozialen Bewegungen der Jahrzehnte danach sind – trotz gänzlich anderer weltanschaulicher Koordinaten – ohne sie nicht denkbar. Wir wollten den Sozialismus und sind damit gescheitert. Wir haben eingesteckt und anschließend ausgeteilt. Wir glaubten, alles wäre möglich, und zwar gleichzeitig. Und jetzt. Aber dieser damalige Griff nach dem Ganzen, der als weltweit imaginierte Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung, entsprang er nur größenwahnsinniger Selbstüberhebung? Oder spiegelte er nicht doch reale Erfordernisse wider? Viel interessanter als die Bewertung der Straßenschlachten von damals scheint mir die Frage, ob sich etwas von dem humanen, befreienden, universalistischen Impuls jener Jahre bei dem heutigen Außenminister erhalten hat. Die verspäteten Racheengel aber bitte ich, das ideologische Terrain zu bedenken, auf dem sie ihren Angriff vortragen: Je deutlicher die Kehrseite der Globalisierung, desto härter der Kampf gegen die Spur des Widerstands im Gedächtnis. CHRISTIAN SEMLER
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