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Zwei-Klassen-Medizin

Die Kassenärztliche Vereinigung erfüllt nicht den gesetzlichen Versorgungsauftrag im psychotherapeutischen Bereich. Eine kritische Studie darüber soll vertuscht werden

von ANDREA SCHNEIDER

Hätte er nicht als kleiner Junge schon einmal mit großen Augen vor einem Weihnachtsbaum gestanden, so könnte man durchaus behaupten, dass Professor Siegfried Zepf das Staunen gelernt hat. In einer Studie wies der Direktor des Intituts für Psychoanalyse, Psychotherapie und psychosomatische Medizin an den Universitätskliniken des Saarlandes Gravierendes nach: Die Kassenärztliche Vereinigung im Saarland und womöglich auch in anderen Bundesländern erfüllt ihren Sicherstellungsauftrag für den Bereich Psychotherapie nicht. Patienten, die dringend auf therapeutische Hilfe angewiesen sind, erhalten keine oder keine angemessene Behandlung. Das ist die eine Seite des Staunens. Die andere betrifft die Reaktion auf Zepfs Zahlen- und Datenmaterial. Anstatt in einen konstruktiven Dialog über Zulassungs- und Honorierungsfragen zu treten, um in einem gemeinsamen Kraftakt die Situation von Patienten und Therapeuten gleichermaßen verbessern zu können, vertuschte die Kassenärztliche Vereinigung die Ergebnisse. Mehr noch: Sie versuchte, deren Veröffentlichung zu unterbinden.

Zunächst zu der Studie: Zepf ermittelte, dass sämtliche im Saarland praktizierenden Psychotherapeuten gerade einmal 25 Prozent des Bedarfs an Psychotherapie decken können. Das heißt: 75 Prozent aller Hilfe suchenden Menschen werden abgewiesen. Darunter auch Patienten, bei denen schwere Depressionen, Bulimie, Anorexie oder sogar Suizidtendenzen diagnostiziert wurden. Zeitgründe und zunehmend auch wirtschaftliche Erwägungen zwingen die Therapeuten, auch bei gravierenden Krankheiten nein zu sagen. Denn trotz ausgelasteter Praxen können 63 Prozent der Psychotherapeuten für Erwachsene und sogar 77 Prozent der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten nicht allein von ihren Praxiseinkünften leben, so die Studie. Ursächlich sind die geringen Honorare, die von den Kassenärztlichen Vereinigungen für therapeutische Leistungen gezahlt werden. Immer mehr Therapeuten geben an, aus dem Gros der Hilfe suchenden Menschen die besser zahlenden privat oder wenigstens Ersatzkassen-Versicherten herauszupicken, weil die Behandlung von Patienten der anderen Kassen die wirtschaftliche Existenz der Praxen bedroht.

Ausgerüstet mit seinem Datenmaterial suchte Zepf den Dialog mit der Kassenärztlichen Vereinigung (KV). Er setzte darauf, Ansprechpartner zu finden, die mit ihm gemeinsam einen Weg aus der kritischen Situation suchen. Eine illusionäre Vorstellung, wie er jetzt einräumen muss. Denn bei Versammlungen der KV wollte niemand etwas von den eklatanten Missständen in der ambulanten Psychotherapie wissen. Der Institutsdirektor erlebte sich „wie ein Tanzbär, dem niemand zuschaut“. Selbst eine Veröffentlichung der Studienergebnisse wurde ihm verwehrt. Das Saarbrücker Ärzte-Blatt, das einer Veröffentlichung zunächst zugestimmt hatte, lehnte sie kurz vor Drucklegung doch noch ab. Begründung: Die Ergebnisse passen nicht in die politische Landschaft. Um das stimmungsvolle Motiv einer angeblich harmonischen Ärzte- und Therapeuten-Familie unter dem Dach der Kassenärztlichen Vereinigung zu erhalten, waren auch massive Mittel recht: KV-Vertreter sollen im Gespräch mit genanntem Ärzte-Blatt laut darüber nachgedacht haben, die 50-prozentige Beteiligung an der Zeitung neu zu überdenken, falls es zu einer Veröffentlichung komme. Beim Deutschen Ärzteblatt handelte sich Zepf ebenfalls eine Abfuhr ein – die Studie beziehe sich auf das Saarland und sei deshalb nicht repräsentativ.

„Daran habe ich nie einen Zweifel gelassen“, betont Zepf. „Die Studie beschreibt die bedenkliche Situation im Saarland.“ Ein Beispiel: Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen, eine Domäne der Psychoanalyse, können nicht behandelt werden, weil es im Saarland zu wenig Psychoanalytiker gibt. Solche Auswüchse seien nicht zwangsläufig auf andere Bundesländer zu übertragen. Am zwingenden Handlungsbedarf im Saarland ändere das jedoch nichts. Schließlich müsse es doch im Interesse der Kassenärztlichen Vereinigung liegen, den gesetzlichen Auftrag, allen Patienten eine ausreichende und zweckmäßige Versorgung zu ermöglichen, erfüllen zu können.

Aktuell aber sei die Versorgung sehr in Frage gestellt. Das liege an der Zulassungspraxis der Kassenärztlichen Vereinigung. Die nämlich halte sich streng an einen so genannten Bedarfsplan, der vom Bundesamt für Bauordnung und Raumwesen entworfen wurde und – so Zepf – „in keiner Weise etwas mit einem Bedarf zu tun“ habe. Denn: „Bei der Suche nach einem Psychotherapeuten halten die Patienten sich jedenfalls nicht an die Planungsbereiche des Bundesamtes.“ Können sie auch gar nicht. Denn bei der Bedarfsplanung ist Therapeut gleich Therapeut. Was aber sollen Erwachsene bei einem Kinder- und Jugendlichen-Therapeuten, der zufällig in ihrem Planungsbereich zugelassen ist? Oder: Wie ergeht es Kindern, wenn in ihrem Bereich vielleicht ein Analytiker oder Verhaltenstherapeut zugelassen ist? Zepf appelliert an die Kassenärztliche Vereinigung, den Bedarf endlich an den Patienten und damit auch am allgemein anerkannten medizinischen Erkenntnisstand zu orientieren. Das heißt: Mehr Therapeuten müssen her, und deren Zulassung müsse sich, genau wie es bei den Fachärzten der Fall sei, an einem tatsächlich ermittelten Bedarf orientieren.

Bei anderen Mängeln, die die Studie aufgedeckt hat, sieht Zepf durchaus Tendenzen, die einen Blick auf die therapeutische Situation in der gesamten Bundesrepublik werfen. Konkrete Ergebnisse soll nach der saarländischen Pilotstudie eine größer angelegte Erhebung liefern. Ergebnisse aus Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und zwei ostdeutschen Bundesländern liegen ihm bereits vor. Ausgewertet sind die Fragebögen zwar noch nicht, aber „bei einer ersten Durchsicht“ fand Zepf die saarländischen Ergebnisse bestätigt. Das heißt: Auch in anderen Bundesländern kommt die KV ihrem gesetzlichen Sicherstellungsauftrag nicht nach. Zu wenige Psychotherapeuten für zu viele Patienten. Ob andernorts auch 75 Prozent aller Patienten abgewiesen werden müssen, kann Zepf noch nicht abschließend beurteilen. Womöglich bekommen mehr Behandlungsbedürftige einen Therapieplatz. Die miserable Honorierung durch die KVen führt aber auch in den anderen Ländern dazu, dass die Therapeuten gezielt Patienten auswählen, für die es mehr Geld gibt.

Verschärft hat sich die finanzielle Schieflage mit Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes Anfang 1999. Zwar war die Honorierung auch zuvor eher maßvoll, doch konnte nur etwa die Hälfte der Psychotherapeuten direkt mit den Kassenärztlichen Vereinigungen abrechnen. Alle anderen wurden direkt von den Krankenkassen honoriert, was nun nicht mehr möglich ist. Mit dem neuen Gesetz begann zunächst das Rennen auf eine kassenärztliche Zulassung, weil nur sie gestattet, gesetzlich versicherte Patienten zu behandeln. Das Budget aber, aus dem die KVen psychotherapeutische Leistungen bezahlen, hat sich kaum erhöht. Mittel aus anderen Facharzt-Töpfen werden nicht herangezogen, um den Therapeuten wenigstens das vom Bundessozialgericht zugestandene Mindesthonorar zu zahlen. Begründung: Auch andere Arztgruppen müssen Einkommenseinbußen hinnehmen.

Zepfs Fazit: Eine Zwei-Klassen-Medizin, wie sie von entrüsteten Medizinern angesichts sinkender Punktwerte und festgezurrter Praxisbudgets als Fiktion an die Wand gemalt wird, ist bei Psychotherapeuten schon jetzt bittere Realität. Behandelt wird, wer zahlt. Nicht oder nicht erschöpfend behandelt wird, wer die Versicherungskarte einer gesetzlichen Krankenkasse zückt. Der Sicherstellungsauftrag, also die Gewährleistung der Versorgung auch im therapeutischen Bereich, den die Bundesregierung den Kassenärztlichen Vereinigungen per Sozialgesetzbuch erteilt hat, wird nicht erfüllt. Doch das Bundesgesundheitsministerium sah – jedenfalls in der Vergangenheit – keinen Handlungsbedarf. Offen bleibt, ob es unter der neuen Führung von Ulla Schmidt zu einem Umdenken kommt – bevor immer mehr Psychotherapeuten den Weg zum Konkursrichter antreten müssen. Schließlich hatten sich auch die Sozialdemokraten vor ihrer Wahl die Förderung der sprechenden Medizin auf ihre Fahnen geschrieben. Durchaus mit Blick auf eine Kostensenkung. Denn spätestens seit der jüngsten Psychiatrie-Enquete ist bekannt, dass jeder dritte Patient im Wartezimmer eines Arztes mit den teuren diagnostischen Maßnahmen der Organmedizin falsch sitzt. Er gehört eigentlich in die Praxis eines Psychotherapeuten. Doch das möchte man bei den Kassenärztlichen Vereinigungen nicht sehen.

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