„Ich hab' gedacht, die sind alle tot“

■ Prozessauftakt gegen die Fahrerin der Unglücks-Taxe am Hauptbahnhof / Amokgerüchte sind „Affenquatsch“ / Womöglich gibt es neue, ganz ähnlich gelagerte Fälle

Ist das Taxi von Eva D. quasi von alleine losgeschossen oder hat die Fahrerin Gas- und Bremspedal an ihrem Automatik-Wagen verwechselt? Noch steht Aussage gegen Gutachten im Taxiunglück-Prozess, in dem sich Eva D. seit gestern wegen fahrlässiger Körperverletzung an 19 Personen verantworten muss.

„Wir suchen hier keinen Sündenbock. Rausfinden, was sich zugetragen hat und warum – das ist das Ziel.“ Richter Dieter Pilz bemühte sich zu Beginn der Verhandlung sichtlich darum, den Fall nicht spektakulärer aufzubereiten, als er tatsächlich ist:

Am 3. Oktober 1999 raste die langjährige Aushilfsfahrerin von ihrem Taxi-Standplatz längs der Wiese am Übersee-Museum mit über 30 Stundenkilometern auf die drei Meter schmale Gasse zwischen den provisorischen Ladencontainern vor dem Haupteingang des Bremer Bahnhofs zu. Erst am Ende der Gasse kam der 250er Dieselmercedes auf dem Bahnhofsvorplatz zum Stehen, mitsamt der völlig aufgelösten Fahrerin. Hinter ihr waren, so die Zeugen, „Menschen durch die Luft geflogen“. Polizis-ten beschreiben den Tatort als Szene „wie aus einem schlechten amerikanischen Film“.

Die Fahrerin selbst hat damals geglaubt, „jetzt sind alle tot“. Und auch jetzt noch, ein Jahr und drei Monate später, liegen die Nerven der 35-jährigen Mutter dreier Kinder blank. Als sie wenige Minuten vor Prozessbeginn erfährt, dass ihr Kollege mit demselben Wagen ein ähnliches Problem hatte, flattern ihre Hände. Doch der Mann will gegenüber der Presse „nichts dazu sagen“. Sein Arbeitgeber, Johann-Hinrich Lürßen, als Zeuge geladen, weiß nur, „dass es Schwierigkeiten beim Bremsen gegeben haben soll“. Weitere Autofahrer haben gestern auf aktuelle Radiomeldungen reagiert und von plötzlicher Beschleunigung berichtet. Der Ex-Kollege ist zur nächsten Verhandlung als Zeuge geladen. Dann werden auch Sachverständige gehört. Und es wird, so der Richter, „hoffentlich ein Urteil“ geben. Schon jetzt ist klar, dass das Gutachten den technischen Zustand des Wagens bis auf einen manipulierten Kilometerstand als einwandfrei beschreibt.

Am gestrigen Verhandlungstag ging es in erster Linie darum, den genauen Verlauf der Schreckensfahrt zu klären. Angeklagte, Taxi-Kollegen, unbeteiligte Passanten und Geschädigte vollziehen an einer maßstabsgerechten Skizze nach, was sie gesehen haben. Letztere sind, so auch der Richter, „wenig ergiebig, die haben den Unfall als Schicksalsschlag erlebt.“ Ein 61-jähriger Lehrer aus Hildesheim hat unter anderem ein Schädel-Hirn-Trauma davongetragen und wurde vorzeitig pensioniert.

Eine 71-jährige Ostfriesin erlitt einen vierfachen Oberschenkelbruch. Gartenarbeit und längere Radtouren seien ihr jetzt nicht mehr möglich. Die Geschädigten haben Schmerzensgeldansprüche bis zu 35.000 Mark gegenüber der Versicherung des Taxi-Unternehmers geltend gemacht, alle beklagen sich über schleppende und unzureichende Zahlung.

Dagegen geht es in den Aussagen von Taxifahrer-Kollegen und Beobachtern ans Eingemachte: Drei Kollegen könnten schwören, dass sie Bremslichter leuchten sahen. Das wäre ein Indiz dafür, dass Eva D.s Version, wonach sie die ganze Zeit, zuletzt sogar mit beiden Füßen, auf dem Bremspedal gestanden habe, stimmt – und der Wagen technisch außer Kontrolle geraten sei.

Ein Lehrer aus Kassel, der unmittelbar neben dem Taxi stand, berichtet dagegen von einem „Kavaliersstart mit heulendem Motor“, Bremslichter habe er nicht gesehen. Neben dem von der Anklage erhobenen Verdacht, Eva D. hätte Gas- und Bremspedal verwechselt – was die Angeklagte allerdings kategorisch ausschließt –, kursiert noch immer das Gerücht, die Frau habe es bei der Amok-Fahrt auf ihren zufällig anwesenden Bruder abgesehen. „Affenquatsch“, sagt ihr dieser jedoch dazu – und auch der Richter findet deutliche Worte: „Ein Gerücht ist wie ein Furz im Wind.“

Nicht zuletzt geht es darum, ob die Angeklagte, nachdem sie zunächst dem vor ihr parkenden Taxi ausgewichen war, bewusst oder unbewusst in die Gasse lenkte, statt den Wagen gegen einen Container zu setzen. Unwillkürlich lenken alle Autofahrer nicht gegen „was Hartes“, sondern gegen „Weiches“, vermuten Taxifahrer in der Verhandlungspause.

hey