: Immer wie im Tunnel
Das Dokumentationszentrum Berliner Mauer zeigte erstmals Film über den „Tunnel 29“ und die Flucht 1962. Damals Betroffene hielten das kaum aus
von PHILIPP GESSLER
Von Holocaust-Überlebenden hört man es noch heute – über 50 Jahre nach der Shoah: Aus Auschwitz seien sie nie rausgekommen, sagen sie. Noch immer fühlten sie sich als KZ-Häftlinge. Ähnliche Traumatisierungen kennt man von Kriegsveteranen, Folteropfern und Vertriebenen. Oder von Opfern des SED-Regimes. Verwundete Menschen sind dies oft, da sie Jahre im Knast in Bautzen saßen, ihre Karriere oder Gesundheit litt, weil sie unter Lebensgefahr flohen. Und da sie heute kaum einer mehr versteht. Wie am Donnerstagabend im „Dokumentationszentrum Berliner Mauer“ im Wedding.
Erstmals war hier an der Bernauer Straße eine Fernsehdokumentation über den wohl bekanntesten Fluchttunnel unter dem Mauerstreifen gezeigt worden: den „Tunnel 29“. Durch ihn – deshalb auch der Name – krochen am 14. September 1962 mindestens 29 Männer, Frauen und Kinder in die Freiheit. „Mindestens“, da bis heute unklar ist, ob und wie viele Menschen danach noch mit Hilfe westlicher Geheimdienste durch diesen Tunnel nach Westberlin flohen. Die US-Behörden etwa verweigern selbst 40 Jahre nach dem Mauerbau dazu jede Auskunft.
Immerhin ist klar, dass in den 28 Jahren, in denen die Mauer stand, insgesamt etwa 100 Ostdeutsche über Tunnel einen Ausweg aus dem ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden fanden, wie Maria Nooke, die Projektleiterin des Dokumentationszentrums, berichtet. An der Bernauer Straße, die durch die unmittelbare Nähe zur Mauer zum Symbol der Teilung wurde, gab es allein 15 Tunnel. Aber nur durch drei gelangen Fluchten, nicht zuletzt deshalb, da die Ostberliner Grenzpolizei oder Stasi früh Wind davon bekam. Praktisch jeder, der eine Flucht wagte oder dabei half, balancierte auf Messers Schneide.
Vielleicht war deshalb die Atmosphäre an diesem Abend so aggressiv, so stickig wie in einem Tunnel. Dabei war das anfangs kaum zu vermuten. Denn viel Anklang fand die ordentliche, zeitweise spannende Dokumentation von „Spiegel TV“.
Mit Hilfe des Filmemachers Henry Köhler und von Zeitzeugen war es dem Mauer-Dokumentationszentrum gelungen, den im Berliner Untergrund vergessenen „Tunnel 29“ wiederzufinden. Sobald aber den Zeitzeugen, den Fluchthelfern Ulrich Pfeifer und Joachim Rudolph, Fragen gestellt werden konnten, kippte die Stimmung. Da lagen Wunden bloß. So ist das bei Traumatisierten.
Es ging um heikle Punkte: Woher kamen die Waffen, die einige der Fluchthelfer beim Durchbruch in den Osten am Fluchttag trugen? Wie sah die Zusammenarbeit mit den westlichen Geheimdiensten aus? Wie konnte man sich der etwa drei Dutzend Helfer beim Tunnelbau sicher sein, wie wählte man sie aus? Und was geschah mit dem Geld? Der US-Sender NBC hatte den Tunnelbau mit einem Kameramann dokumentiert und auch gesponsert. Gerade die Fragen nach dem Geld und den Waffen brachten einige Zuschauer – jedoch nicht die beiden Fluchthelfer Rudolph und Pfeifer – richtig in Wallung: „Ist das so wichtig“, giftete ein älterer Herr im Publikum, als eine Zuschauerin zu fragen wagte, woher das Schießgerät gekommen sei. Man solle doch lieber einmal Fragen nach den Strapazen der „Kameraden“ stellen, meinte der alte Mann.
Das Geld hat vieles kaputtgemacht, das wird im Laufe des Abends klar. Auch wenn die Helfer des „Tunnels 29“ noch Idealisten waren, die das alles für ihre Familien oder Freunde taten – oder um dem Regime eins auszuwischen: Auch bei diesem Fluchtprojekt zerstörten die NBC-Zahlung und späteres Gerangel um die Rechte die Beziehungen in der Gemeinschaft der Fluchthelfer und Flüchtlinge.
Schwer wog dabei auch der Vertrauensbruch, denn selbst im harten Kern der Tunnelbauer wussten nicht alle von den Filmaufnahmen – und entsetzt sahen sich manche Flüchtlinge plötzlich im Scheinwerferlicht einer Kamera, sobald sie, lehmbeschmiert an Händen und Knien, aus dem Tunnel kraxelten. (Diese Szenen gehören gleichwohl zu den eindruckvollsten des Films.)
„Mir ist das Geld egal“, sagt Rudolph heute – damals zerstörte es jedoch die Gruppe der Idealisten, die ihr Leben aufs Spiel setzten, um ihren Lieben einen Weg in die Freiheit zu bahnen. Fast alle hätten sich aus den Augen verloren, manche seien „total zerstritten“, erzählt er.
Und dann beginnt man zu verstehen, warum einige die Frage nach dem Geld schlicht nicht ertragen können.
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