Geboren nach neun Jahren Eiszeit

Das neue Rekordkind der Reproduktionsmedizin heißt Paul. So lang überlebte noch keine Eizelle im Kühlschrank

BERLIN taz ■ Ob Paul wohl ein besonderes Verhältnis zu Kälte entwickeln wird? Immerhin neun Jahre lagerte die befruchtete Eizelle, aus der sich der in dieser Woche geborene Knabe entwickelte, bei 190 Grad Kälte in einem Eisschrank. Noch nie, sagt der Bonner Reproduktionsmediziner Hans van der Ven, der Paul produzierte, sei eine Schwangerschaft nach einer so langen Lagerzeit geglückt.

Paul entstand, weil seine Eltern vor neun Jahren beschlossen, ihrem Kinderwunsch nachzuhelfen: Sie ließen eine Reagenzglasbefruchtung durchführen. Bei solchen In-Vitro-Fertilisationen (IVF) werden überzählige befruchtete Eizellen tiefgefroren, um als Ersatz zu dienen, falls der erste Versuch, eine Eizelle einzupflanzen, scheitert. „Besondere persönliche Umstände“, so van der Ven, führten dazu, dass Pauls Mutter nach dem ersten Versuch, der tatsächlich nicht glückte, zunächst keine weiteren Einpflanzversuche unternehmen wollte. Nach neun Jahren waren die Umstände geklärt. Pauls Vorstadium wurde in die Gebärmutter gepflanzt und entwickelte sich prächtig.

Eine Weltneuheit also – und van der Ven entwirft bereits ein Zukunftsszenario: „Theoretisch ist möglich, dass eine Frau in jungen Jahren eine Eizelle entnehmen lässt und erst Jahre später Mutter wird.“ Nie mehr Torschlusspanik, weil die biologische Uhr tickt? „Das ist doch toll“, ruft die Kieler Jura-Professorin Monika Frommel, „es erweitert die Wahlmöglichkeiten der Frauen.“ Rechtlich gibt es wenig Hindernisse. Für eine IVF kann sich melden, wer ein Jahr vergeblich versuchte, ein Kind zu zeugen. Doch ist diese Methode heute alles andere als ein kleiner Ausflug auf dem Weg der immer flexibleren Karriereplanung. Die Hormonbehandlung, der Frauen sich unterziehen müssen, um mehrere befruchtungsreife Eier zu produzieren, ist nicht ungefährlich. Und die Erfolgsrate solcher künstlich erzeugter Schwangerschaften liegt irgendwo knapp unter 20 Prozent. „Aber nur“, wendet Frommel ein, „weil unser Embryonenschutzgesetz verbietet, mehr als drei befruchtete Eizellen einzufrieren. Könnte man zehn einfrieren, wie in anderen Ländern, läge die Erfolgsquote bei 70 Prozent.“

Dennoch wenden sich viele Frauen mit kaltem Grausen von der Tiefkühlmethode: Die Bremer Beauftragte für Frauenfragen, Ulrike Hauffe, die für das Frauennetzwerk „Reprokult“ spricht, fragt: „Sollen tatsächlich Frauen die hohen Risiken von IVF und späten Schwangerschaften in Kauf nehmen, nur weil die Gesellschaft die Kinderbetreuung nicht auf die Reihe bekommt?“ Und die Wissenschaftsethikerin Sigrid Graumann wundert sich über einen merkwürdigen Freiheitsbegriff: „Sie werden nicht frei vom gesellschaftlichen Zwang der Mutterrolle, sie werden dazu sogar noch abhängig von medizinischen Zwängen: damit kommt die Gesellschaft jedenfalls nicht voran.“ Das Gegenargument liegt, wie immer in den Debatten um Reproduktionsmedizin, in den erfreulichen Einzelfällen: zum Beispiel Paul.HEIDE OESTREICH