: Viva Verdi
Vor hundert Jahren starb Giuseppe Verdi. Der Komponist gilt als Wegbereiter des italienischen Nationalstaats. Aber das ist ein Mythos. Der populäre Opernschöpfer war in Wahrheit ein politischer Skeptiker. Er optierte für die linke Mitte und wollte im Zweifel lieber ein Roter als ein Schwarzer sein. Seine Tantiemen und den Nachruhm verlor er dabei nie aus den Augen
von RALPH BOLLMANN
Der Maestro der italienischen Oper starb auf großer Bühne. Über Puls und Atemfrequenz des moribunden Musikers berichteten die Zeitungen wie sonst nur über Börsenkurse. „Das Ende steht bevor“, sorgte sich die sozialistische Parteizeitung Avanti, „die Katastrophe kann von einem Moment zum anderen geschehen.“ Kaum hatte der Komponist nach einem Schlaganfall das Bewusstsein verloren, verwandelte sich das Foyer seines Hotels unter dem Andrang von Journalisten aus aller Welt in ein improvisiertes Pressezentrum. Eine Woche dauerte das Medienspektakel um den 87-Jährigen, am 27. Januar 1901 war Giuseppe Verdi tot.
Hundert Jahre später taugt Italiens berühmtester Komponist noch immer für großes Spektakel. In aller Welt verfallen die Opernhäuser dieses Jahr dem Verdi-Taumel: Festwochen von Frankfurt bis Sydney, von Mailand bis New York. Sogar die drei Berliner Opernhäuser, sonst notorisch unkoordiniert, haben einen gemeinsamen Programmzettel gedruckt. Dabei ist Verdi – sieht man von Mozarts „Zauberflöte“ ab – selbst in normalen Zeiten der Kassenschlager in Deutschlands Musiktheatern. In der Spielzeit 1998/99, als das Jubiläumsfieber noch gar nicht ausgebrochen war, wurde „La Traviata“ an 28 Häusern exakt dreihundertmal gespielt, vor mindestens 220.000 Zuschauern.
Der Beginn dieses beispiellosen Siegeszugs durch die Opernhäuser der Welt lässt sich genau datieren: Bereits mit der gefeierten Premiere seiner dritten Oper „Nabucco“ am 9. März 1842 hatte sich der damals 28-jährige Verdi durchgesetzt. Der Aufstieg des Musikers, der seine Karriere für damalige Verhältnisse ungewöhnlich spät begonnen hatte, vollzog sich erstaunlich reibungslos – auch wenn Verdi seine frühe Zeit rückblickend zu entbehrungsreichen „Galeerenjahren“ stilisierte. Seine erste Oper, „Oberto“, kam 1839 sogleich an der Mailänder Scala heraus und brachte ihm einen Auftrag für drei weitere Werke ein. Fortan konnte er Vorschüsse verlangen und für die Inszenierung seiner Opern Bedingungen stellen. Bis 1853 brachte er jedes Jahr mindestens ein neues Werk auf die Bühne.
Die meisten Verdi-Biografen jedoch ignorieren diesen frühen Erfolg geflissentlich. Denn zum populären Bild vom musikalischen Helden des „Risorgimento“, der nationalen Wiedergeburt Italiens im 19. Jahrhundert, passt das Wort von den „Galeerenjahren“ viel besser. Doch seine frühen Erfolge feierte Verdi nicht – wie es der Mythos will – beim einfachen „Volk“, dem der Zugang zu den Opernhäusern damals noch weitgehend verwehrt war.
Bevor der italienische Nationalstaat 1860 entstand, waren die Kleinstaaten der Halbinsel – und mit ihnen die Opernhäuser – fest in der Hand fremder Dynastien. Mit diesen „Fremdherrschern“ lag Verdi keinesfalls derart über Kreuz, wie es die italienischen Nationalisten im Nachhinein gerne gehabt hätten. Im Gegenteil: Nach dem Erfolg des „Nabucco“ reiste sogar die habsburgische Großherzogin der Toskana eigens von Florenz nach Mailand, um sich ein persönliches Bild von diesem jungen Komponisten und seiner Musik zu machen.
Die Anklänge an einen gesamtitalienischen Patriotismus, die Verdis frühe Opern durchziehen, waren in Wahrheit alles andere als neu. Selbst der vermeintlich unpolitische Verdi-Vorläufer Rossini hatte den Titelhelden seiner Oper „Tancredi“ dem „süßen Vaterland“ huldigen lassen und seiner „Italienerin in Algier“ sogar in den Mund gelegt, sie sehe „in ganz Italien die Zeichen von Kühnheit wachsen“.
Der muskalische Vorruheständler Rossini, der bereits mit 37 Jahren den Griffel fallen ließ und fortan als Pariser Lebemann allenfalls üppige Menüs komponierte, eignete sich für die nationale Mythenproduktion jedoch denkbar schlecht – zumal der heiter-ironische Grundton seiner Musik mit einer ernsten Sache wie der Nation nicht harmonierte. Verdi hingegen verstand sich aufs düstere Genre und war seinem Heimatland trotz einiger Abstecher nach London, Paris und Sankt Petersburg treu geblieben. Vor allem aber entstammte er der gleichen Generation wie die übrigen Helden des Risorgimento – der militärische Draufgänger Giuseppe Garibaldi, der begnadete Diplomat Camillo Graf Cavour und der blasse König Vittorio Emanuele II. „Vittorio Emanuele, Re d’Italia“: Seit Mitte der 1870er-Jahre wurden die Initialen des Königs mit dem Namen des Komponisten in eins gesetzt, um das Image des wenig charismatischen Monarchen ein wenig zu liften. Die Heroen der nationalen Einigung waren damit zu einer Personenkonstellation vereint, die ihrerseits opernhafte Züge trug. „Via Verdi“ oder „Corso Cavour“: Auch im Stadtbild italienischer Kommunen steht der Komponist bis heute auf einer Stufe mit Politikern und Heerführern.
Als Ikone der „Italianità“ wurde Verdi zwangsläufig zum Antipoden jenes Komponisten nördlich der Alpen, dessen Rezeption nicht minder national gefärbt war: Richard Wagner. Verdi oder Wagner – das ist bis heute weniger eine Geschmacks- als eine Glaubensfrage. Für einen echten Wagner-Jünger sind die Opern des Italieners nichts weiter als konventionelles Kunsthandwerk ohne Tiefgang. Die Verdi-Freunde hingegen können nicht verstehen, wie man fünf Stunden lang einem weitgehend handlungsfreien Musikdrama lauschen kann – und die Sänger dabei bemitleiden muss, wie sie gegen ein alles dominierendes Orchester anbrüllen.
Die Zeitgenossen debattierten erregt über die Frage, ob sich der späte Verdi von seinem gleichaltrigen Gegenspieler beeinflussen ließ. Lohnender als die Suche nach teutonischen Einflüssen im „Otello“ oder „Falstaff“ ist aber ein Vergleich der politischen Grundhaltung beider Komponisten. Und da erweisen sich Wagner und Verdi, auch jenseits aller Klischees, tatsächlich als repräsentative Vertreter ihres jeweiligen Landes.
Anders als das gängige Bild es will, lehnte sich Wagner politisch weiter aus dem Fenster als der Italiener. Nach dem Dresdner Maiaufstand 1849 verlor der Sachse seine Kapellmeisterstelle, musste mittellos ins Exil gehen – und wurde vor lauter Neid auf die arrivierten Kollegen zum radikalen Antisemiten. Verdi hingegen wählte, als die übrigen italienischen Opernhäuser revolutionsbedingt geschlossen waren, ganz pragmatisch das habsburgtreue Triest als Uraufführungsort seiner neuen Oper „Il Corsaro“.
Während in Deutschland moderate Positionen lange als Zeichen mangelnder Entschlossenheit galten, konnte der Italiener Verdi kurz nach der italienischen Einigung ganz offen bekennen: „Ich habe den Standpunkt der linken Mitte gewählt.“ Zur Erläuterung fügte er hinzu: „Ich unterstütze die Regierung, aber nicht als System, und stehe zur Opposition, wenn es das allgemeine Interesse des Staates so verlangt.“ Im Zweifel sei er „lieber ein Roter als ein Schwarzer“, ließ er bei anderer Gelegenheit verlauten. Wobei „schwarz“ bei Verdi mit „klerikal“ zu übersetzen ist: Auch seine Abneigung gegen die römische Amtskirche machte ihn zu einer Identifikationfigur des jungen italienischen Nationalstaats, der im Kampf gegen die weltliche Herrschaft der Päpste entstanden war. In Verdis Opern kommt die Kirche nicht gut weg – am deutlichsten ist das in den Inquisitionsszenen des „Don Carlos“.
Von Kompositionen für den politischen Alltagsgebrauch hielt sich Verdi jedoch fern: Er wusste, dass sein künstlerischer Ruhm darunter leiden würde. Dass er in jungen Jahren eine Hymne an den österreichischen Kaiser verfasst hatte, plagte ihn nach dem Ende der habsburgischen „Fremdherrschaft“ so sehr, dass er sich an diese Widmung partout nicht mehr erinnern mochte. Und seine politischste Oper, „La battaglia di Legnano“, war gleichzeitig seine erfolgloseste. Dass der Chor nach einem martialischen Trommelwirbel ein markiges „Viva Italia“ in den Saal brüllte – das mochte Anfang 1849 vielleicht das Publikum der Uraufführung im revolutionären Rom beeindrucken, nicht aber die Nachgeborenen.
Für seinen Nachruhm als vermeintlicher Wegbereiter des Risorgimento genügte es vollauf, dass die meisten Verdi-Opern im Ambiente eines unterdrückten Volkes angesiedelt sind, das die Folie für den „Freiheitskampf“ der Italiener abgeben konnte – ob nun im frühen „Nabucco“ die Juden unter den Babyloniern leiden oder in der späten „Aida“ die Äthiopier unter den Ägyptern. Auch das schöne Bild vom friedliebenden „Risorgimento-Nationalismus“ lässt sich mit Verdis Hilfe ausmalen – verspricht doch der Römer Ezio dem Hunnenkönig Attila in der gleichnamigen Oper, er könne den Rest der Welt getrost behalten, wenn er ihm nur Italien überlasse.
Das hinderte die italienischen Nationalisten nicht daran, Verdis hundertsten Geburtstag 1913 propagandistisch in den Dienst des Tripolisfeldzugs zu stellen. Zwei Jahre später trat Italien in den Ersten Weltkrieg ein. Verdi, in den Worten des Kritikers Ulrich Schreiber der „realpolitisch wachste Komponist des 19. Jahrhunderts“, hatte dieses Szenario kommen sehen. „Wir werden dem europäischen Krieg nicht entgehen“, schrieb er nach der Schlacht von Sedan 1870, „er wird uns verschlingen. Er wird nicht morgen kommen, aber er kommt.“
Für kurze Zeit wurde Verdi, der politische Realist, sogar selbst zum Politiker: Er ließ sich ins erste Parlament des geeinten Italien wählen, aus dem er nach einer Wahlperiode 1865 wieder ausschied. Er selbst behauptete rückblickend, er habe dieses Opfer nur aus vaterländischer Pflichterfüllung auf sich genommen. In Wahrheit hat er durchaus in eigener Sache Politik gemacht: Verdi engagierte sich für eine gesetzliche Regelung des Urheberrechts, die nicht zuletzt die Tantiemen der Opernkomponisten sichern sollte.
Schon vor der Einigung hatte der Opernbetrieb zwar die gesamte Halbinsel kulturell zusammengehalten – doch die unterschiedliche Rechtslage in den verschiedenen Staaten bereitete den Komponisten immer wieder unangenehme Überraschungen. Besonders berüchtigt war Neapel, wo auf dem florierenden Schwarzmarkt auch Noten gehandelt wurden. Als Verdi seinen „Maskenball“ am dortigen Teatro di San Carlo 1858 zur Uraufführung bringen wollte, bedrängte ihn sein Verleger Ricordi brieflich aus Mailand, „um Himmels willen“ die Partitur nicht aus der Hand zu geben. Unter dem Vorwand, die Zensur des bourbonischen Königreichs verlange unzumutbare Eingriffe in den Text, zog Verdi die Oper zurück.
Die Sachwalter des Verdi-Mythos nahmen diesen Vorwand nur allzu gern für bare Münze. Unbeugsam habe der Komponist dem neapolitanischen Absolutismus die Stirn geboten, lautete die gängige Lesart – bis die Politologin Birgit Pauls vor wenigen Jahren die Ricordi-Briefe entdeckte und den pekuniären Hintergrund der Affäre enthüllte. Kurz nach dem Zerwürfnis brachte Verdi den „Maskenball“ in Rom heraus, wo er weit schärfere Eingriffe der päpstlichen Zensurbehörde umstandslos akzeptierte.
Am dauerhaftesten war ohnehin der Erfolg jener Werke, die sich der patriotisch-politischen Interpretation entziehen. Das gilt vor allem für die „Trilogia popolare“ – für die drei populären Opern „Rigoletto“, „Troubadour“ und „Traviata“ also, die der knapp 40-jährige Verdi nach dem Scheitern der Revolution von 1848/49 in rascher Folge schrieb. Hier geht es um das Scheitern an bürgerlichen Konventionen und übermächtigen Vaterfiguren, um den zeitlosen Konflikt zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlichen Normen. An die Stelle pathetischer Chöre tritt das psychologisierende Kammerspiel. Dabei gelingt es Verdi, die Erwartungshaltung des Publikums zu erfüllen und zugleich bloßzustellen. So verkörpert das schmissige „La donna è mobile“ des Herzogs im „Rigoletto“ letztlich nur dessen Gefühllosigkeit: Das Publikum, das die populäre Arie beklatscht, applaudiert seiner eigenen Borniertheit.
Die führenden gesellschaftlichen Schichten des jungen italienischen Nationalstaats, die Verdi zum nationalen Mythos stilisierten, hörten lieber nicht so genau hin. Schließlich brauchte das Land nichts dringender als eine Identifikationsfigur – war doch die innere Einheit weiter entfernt denn je, als Verdi vier Jahrzehnte nach der staatlichen Einigung starb.
Die neuen Medien Grammofon und Radio brachten den Verdi-Kult nach seinem Tod erst richtig in Schwung. Bis ins kleinste Dorf spielten Musikkapellen die Chöre und Arien nach. Das „Flieg’ Gedanke“ aus „Nabucco“ wurde alsbald zur heimlichen Nationalhymne. Noch heute äußert eine Mehrheit der Italiener den Wunsch, der Chor möge die offizielle Hymne ersetzen. Der Mythos ist nicht totzukriegen.
RALPH BOLLMANN, 31, ist Politikredakteur in der Berliner Lokalredaktion der taz. Er lässt sich kaum eine Verdi-Aufführung entgehen
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