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Ossis froh – Westniveau!

Eine Umweltstudie des Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle (IWH) diagnostiziert einen positiven Umwelttrend in den neuen Bundesländern. Das IWH korrigiert mit seiner Studie Schwarzmaler wie Euphoriker in Ost und West, greift mit seinen Begründungen für den Trend jedoch zu kurz

In den neuen Bundesländern sind die Defizite im gewerblichen Umweltschutz nahezu abgebaut. Zu dieser Bilanz kommt das Institut für Wirtschaftsforschung in Halle (IWH) zehn Jahre nach der Wende. Das IWH vergleicht in der Studie „Wirtschaft im Wandel“ die Entwicklungen in alten und neuen Bundesländern im vergangenen Jahrzehnt.

Kann man sich nun im Osten zurücklehnen und auf den Erfolgen ausruhen? „Nein, das kann man nicht sagen“, betont Walter Komar, einer der drei Autoren der Studie. Es seien zwar viele Fortschritte im Umweltschutz zu verzeichnen, aber Nachholbedarf bleibe. Abwasserentsorgung und Kanalisation sind weiterhin auszubauen. Oder im Bereich Abfall: Dort gelten bis 2004 bundeseinheitliche Anforderungen. Es sind Anlagen aufzubauen, die den Abfall vorbehandeln – entweder biologisch-mechanisch oder durch Verbrennung.

Wie sah der Wandel in der Wirtschaft konkret aus? Neben „akuten Gefahren für die menschliche Gesundheit und den Bestand natürlicher Ökosysteme“ habe sich Anfang der 90er-Jahre der schlechte Umweltzustand ökonomisch nachteilig ausgewirkt. Die höchste Summe wurde im Bundestagswahljahr 1994 bereitgestellt. Reichlich vier Milliarden Mark wurden in den märkischen Sand gesetzt und die Bitterfelder Luft geblasen. Für die versprochenen blühenden Landschaften?

Nein, der Einigungsvertrag, das bundesdeutsche Umweltrecht und EU-Richtlinien setzten die Maßstäbe dafür, dass 1994/95 im Ost-West-Vergleich der dreifache Anteil der Gesamtinvestitionen für Umweltschutz ausgegeben wurde. Das klingt üppig, aber: Die alten Bundesländer hatten all die Jahre höhere Beträge zur Verfügung als das Anschlussgebiet.

Interessant sind die Abfallzahlen. Während in der DDR bis 1989 nur wenig Restmüll anfiel, wuchs der Müllberg 1990 im Osten auf 478 Kilogramm pro Kopf. Das waren knapp 120 mehr als im Westen. Zwei wesentliche Gründe werden angeführt. Zum einen der Zusammenbruch des staatlichen Systems der Wiederverwertung von Glas und Papier (Sero), zum anderen der radikal veränderte Konsum. Seit 1994 sinkt die Zahl. Bereits 1998 war sie mit rund 250 Kilogramm geringer als in den alten Ländern. Die Spitze hält Sachsen mit knapp über 200.

Das Statistische Bundesamt bescheinigt dem Osten auch einen geringeren Wasserverbrauch. Während die Einwohner von Sachsen bis Mecklenburg-Vorpommern nur zwischen 86 und 106 Liter Abwasser pro Tag in die Kanalisation entsorgen, werden zwischen Alpen und Nordsee 120 bis 154 Liter pro Kopf verbraucht. Berlin steht mit 127 Litern außer Wertung, da es keine separaten Zahlen für den Ost- und Westteil gibt.

Natürlich hört sich die Schlagzeile „Umweltschutzdefizit in Ostdeutschland abgebaut“ gut an. Nachrichtenagenturen titelten so. Das klingt in nostalgischen Ohren wie „Westniveau“ oder wie die alte DDR-Agit-Parole „Überholen ohne einzuholen!“.

Zum Gesamtverständnis der Umweltzahlen bleibt die Studie bedauerlicherweise eine wesentliche Aussage schuldig: dass die positiven Ost-Werte eng mit der geringeren wirtschaftlichen Entwicklung zusammenhängen. Nicht zuletzt das niedrige Durchschnittseinkommen dämpft die Konsumwut und damit auch die Abfallzahlen.

Natürlich hat sich viel verändert im Osten. Aber dass die Stadt Bitterfeld auf ihrer Homepage mit „reizvoller Naturlandschaft“ und „Naherholungsgebiet“ so für ein neues Image wirbt, als sei die ehemalige Chemieschleuder zum Luftkurort mutiert, wird ihr auch heute noch nur schwer jemand abnehmen.

Neben der Sachlichkeit der Studie hat sie ein weiteres Gutes. Sie fördert Kreativität. Denn der bisher ins Feld geführte Standortnachteil in den neuen Bundesländern, der Umweltschutz, fällt als Grund für die schleppende wirtschaftliche Entwicklung im Osten weg. Politiker und Wirtschaftsverbände sind gefordert, sich schnell neue Gründe auszudenken. HOLGER KLEMM

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