trends, jungautoren etc.: Ende der Weltbiografie
Erlebnisproleten
Nennen wir es Weltläufigkeit. Oder Lebenskunst, Lebensglück oder einfach Lebensprahlerei: Die Biografie des debütierenden Jungschriftstellers war in den letzten Jahren vor allem durch eindrucksvolle Geburts-, Schul- und Studienorte charakterisiert. Bangkok, Barcelona und Bahrein, Tokio, Montreal, Edinburgh. Man hatte die Welt in den ersten zwanzig Lebensjahren nicht nur besucht, man hatte in ihr gelebt. Vielleicht als Botschaftersohn oder Weltrufprofessorensprössling. Und den aktuellen Stand des Lebenslaufs markierte dann ein knappes: „Der Autor lebt in London und Berlin.“ Eine gute Welterlebnisbiografie war schon der halbe Buchvertrag.
Doch jetzt ist alles anders. Das neue Frühjahrsprogramm hat seinen ersten Trend: Man lebt wieder unaufregend. Man bleibt zu Hause. Die neuen Schriftsteller-Lebensentwürfe der Roman-Debütanten des kommenden Frühjahrs klingen fast schon proletarisch, zumindest an der Lebensbasis irgendwann mal gelderwerbsorientiert: Man war wieder Taxifahrer, Gärtner, gar Fabrikarbeiter. Man hat etwas erlebt, indem man Geld verdiente. Und dazu genügt in der Regel ein einziger Wohnort. – Das Erleben ist in dir. Und ist es nicht in dir, dann ist es nirgendwo.
Thomas Glavnic („Der Kameramörder“, Volk und Welt): war Taxifahrer, Bergbauer und Werbetexter, lebt in Wien. Oder Hans Löffler („Letzte Stunde des Nachmittags“, Hanser): lernte Gärtner und Grafiker, wurde in Berlin-Spandau geboren, lebt in Berlin und bei Potsdam. Und auch Christoph Bauer („Jetzt stillen wir unseren Hunger“, S. Fischer) lässt in seiner Biografie stolz auf seine Anfänge als Taxifahrer hinweisen. König, heimliches Vorbild und Trendsetter des neuen Erlebnisproletariats ist – klar – Tobias O. Meißner („Neverwake“, Eichborn Berlin). Sein Lebenslauf ist schon seit Jahren vorbildlich: lebt seit seinem zweiten Lebensjahr in Berlin, seit elf Jahren in Nord-Neukölln. Seit 1997 halbjährlich wechselnde Tätigkeiten als Fabrikarbeiter und freiberuflicher Schriftsteller. Der Mann weiß, wo der Stoff der neuen Bücher liegt.
Er liegt nicht in der Welt. Nicht in Bahrein. Und Alain Finkielkraut liefert den neuen Zu-Hause-Bleibern die theoretische Basis: „Der eingebildete Kosmopolit – Über die Tyrannei der neuen Superelite“ heißt seine bei Klett-Cotta erscheinende Protestschrift. Gegen „den pseudointellektuellen Globetrotter, den universellen Konsumenten, den barbarischen Touristen“. Weltschriftsteller, aufgepasst. Eure Zeit ist vorbei. Zumindest für diesen Frühling.
VOLKER WEIDERMANN
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