: Straßburgs Dilemma
Russlands Krieg in Tschetschenien geht weiter. Wie soll der Europarat damit umgehen?
von BARBARA OERTEL
Im April vergangenen Jahres betrat der Europarat Neuland. Erstmals in seiner fast 52-jährigen Geschichte griff der Hüter von Demokratie und Menschenrechten ganz tief in die Kiste seiner Sanktionsmöglichkeiten und suspendierte bis auf weiteres das Stimmrecht Russlands. Der Grund für diesen Schritt, den die Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung lange und kontrovers diskutiert hatten und viele nur unter großen Bauchschmerzen mittrugen, waren zahlreiche schwere Menschenrechtsverletzungen durch die föderalen Truppen seit Beginn des zweiten Krieges Russlands gegen die Kaukasusrepublik Tschetschenien im Oktober 1999.
Heute steht das Thema Tschetschenien in Straßburg anlässlich der Wintersitzung der Parlamentarischen Versammlung erneut auf der Tagesordnung. Die Entscheidung, die Sanktionen gegen Russland aufzuheben, was nichts anderes hieße, als substanzielle Fortschritte auf dem Gebiet der Menschenrechte zu konstatieren, dürfte kaum leichter zu treffen sein als vor acht Monaten. Zwar geht es vordergründig um die Beurteilung der Lage der tschetschenischen Zivilbevölkerung. Dahinter verbirgt sich aber die komplexere Frage, mit der sich der Europarat seit der Aufnahme der ehemals sozialistischen Staaten immer wieder herumschlägt: Wie weit kann die Toleranz einer Institution gehen, bevor sie Gefahr läuft, ihre Prinzipien zu diskreditieren und damit an Glaubwürdigkeit einzubüßen?
Die Geschichte Russlands im Europarat ist von Anfang an eng mit Tschetschenien verbunden. Zwar führte 1995 der erste Tschetschenienkrieg (1994–1996) dazu, die Verhandlungen mit Russland über eine Mitgliedschaft zunächst auszusetzen. Ein Jahr später erhielt Moskau jedoch den Mitgliedsstatus – obwohl die Kämpfe andauerten. Das zentrale Argument der Befürworter formulierte damals die damalige Präsidentin der Parlamentarischen Versammlung, Leni Fischer. Man könne auf eine Entwicklung Russlands in Richtung Demokratie und Rechtstaatlichkeit nur effektiv einwirken, wenn das Land Mitglied des Europarates sei, sagte sie, ohne jedoch mögliche Sanktionen bei Fehlverhalten auszuschließen.
Inwieweit der Europarat diese positive Einflussnahme im Falle Russlands für sich reklamieren kann, ist indes fraglich. Zumindest, wenn man dem Bericht des britischen Abgeordneten Lord Judd folgt, der vergangene Woche mit weiteren Experten nach Tschetschenien gereist war. Dem Rapport zufolge, der bei der heutigen Abstimmung als Entscheidungshilfe dienen soll, gebe es in Tschetschenien seit dem vergangenen September „ermutigende Fortschritte“. Dazu gehörten die Wiedereinrichtung staatlicher Institutionen in den Bereichen Verwaltung, Justiz und Polizei. Auf der Habenseite vermerkt der Bericht überdies den Rückzug von russischen Truppenteilen sowie den, obgleich immer noch begrenzten Zugang von russischen Nichtregierungsorganisationen.
In Bezug auf die Menschenrechte fällt die Bilanz weit ernüchternder aus. Zwar habe sich die Anwesenheit des russischen Präsidialbeauftragten für Menschenrechte, Kalamanow, in Tschetschenien positiv ausgewirkt. Demgegenüber seien aber nur in 34 von 540 registrierten Fällen der von Angehörigen der Armee begangenen Menschenrechtsverstöße bislang Anklage erhoben und fünf Soldaten verurteilt worden. Auch mit den drei Massakern in Alkhan-Jurt, Staropromyslowski und Aldi sei die Justiz nicht befasst. Weiter seien Gewalt und Willkür an den Kontrollposten, Morde und das Verschwindenlassen von Menschen an der Tagesordnung. Täter würden nicht ermittelt.
Lässt bereits der Judd-Bericht erhebliche Zweifel an einer Verbesserung der Menschenrechtslage in Tschetschenien aufkommen, so liest sich das jüngste Memorandum der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) wie ein Lexikon der Grausamkeit. So ist die Zivilbevölkerung nach wie vor ständigem Terror ausgesetzt. Täglich würden Menschen Opfer von „Säuberungsaktionen“, Plünderungen, Verschleppungen und willkürlichen Verhaftungen, wobei Folterungen in der Haft, wie Schläge oder Stromstöße, die Norm seien. „Russland hat seine Versprechen gegenüber dem Europarat nicht eingehalten“, sagte die Direktorin der HRW-Abteilung für Europa und Zentralasien, Holly Cartner. „Es gibt keinen Grund, Moskau zu belohnen, und die Aufhebung der Suspendierung des Stimmrechts würde genau das bewirken.“ Folgerichtig appelliert HRW an den Europarat, die Suspendierung des Stimmrechts beizubehalten und darüber hinaus, dem Ministerrat zu empfehlen, ein Verfahren zum Ausschluss Russlands einzuleiten. Zumindest dieser Forderung dürften die Straßburger Abgeordneten wohl keinesfalls nachkommen.
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