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Denken in Zitaten

Ein Film wird nicht im Schneideraum vollendet, sondern erst in den Gedanken des Zuschauers, und ein Film ist immer ein Eingriff in die Wirklichkeit: Eine Alexander-Kluge-Werkschau im Central-Kino

von EIKE WENZEL

Irgendwann werden auch Spielfilme langweilig – weil sie uns immer weismachen wollen, dass die Realität zwischen zwei Menschen stattfindet. Dokumentarfilme, die die kalte Wirklichkeit in lieblosen Bildern und mit schlecht gelaunten Kommentaren beschreiben, machen uns aber auch nicht glücklicher. Wer gibt uns Filme, die es mit der komplizierten Realität aufnehmen und trotzdem nicht vergessen, dass der Mensch von seinen Wünschen lebt?

Alexander Kluge ist der Fachmann für diese Drahtseilakte im Kino und seit 1988 auch im Privatfernsehen. Wer zu Kluge ins Kino geht, kann lernen, dass auch das Hirn Sinnlichkeit produziert und Komik dann am trockensten ist, wenn sie in der Realität von der Kamera entdeckt wird. Wie bei keinem anderen Regisseur hat man bei Kluge den Eindruck, dass er schon immer gewusst hat, wie seine Filme aussehen sollen und was er im Fernsehen machen möchte.

Eingekleidet in die Begriffsmonstranzen der damaligen Zeit, schreibt er 1973, dass der Gegensatz zwischen Fiktion und Dokumentarfilm ein „Schein-Gegensatz“ sei, eine List der Film- und Fernsehindustrie, um den Zuschauer auf Konfektionsware einzustellen.

Bereits mit „Abschied von gestern“, seinem ersten Langfilm, der 1966 auf den Filmfestspielen in Venedig einen Sonderpreis gewann, filmte er gegen diesen Schubladenblick an. Anita G., gespielt von Kluges Schwester Alexandra, war seine erste unverwechselbare Figur. Obwohl Anita erfunden ist, schickt Kluge sie – sozusagen ohne Drehbuch – durch das reale Frankfurt der 60er-Jahre, lässt sie mit realen Hoteliers und erfundenen Uniprofessoren reden. Anita G. ist jüdischer Abstammung und kommt aus der DDR. Im Westen kann sie nicht Fuß fassen, weil ihr ihre Vergangenheit im Osten und in der NS-Zeit nicht aus dem Kopf geht. Bei einem Prozess verlangt der Richter von Anita, dass sie die Vergangenheit ein für allemal begräbt. Und weil Anita G. in diesem Film nur zur Hälfte eine Drehbucherfindung und zur anderen Hälfte einfach Kluges geliebte Schwester ist, versteht man die hochrichterliche Aufforderung zur Geschichtsverdrängung als direkten Kommentar zum bundesdeutschen Geschichtsverständnis der Zeit.

Kluge war der Erste, der vom „Film im Kopf des Zuschauers“ sprach. Sein Prinzip ist es, Filme mit Rissen und Sprüngen zu machen, Denkmöglichkeiten zu schaffen und vorschnellen Gewissheiten zu misstrauen. Ein Film wird nicht im Schneideraum vollendet, sondern in den Gedanken des Zuschauers – das hat Kluge schon 20 Jahre vor der Postmoderne und ihren öden Ironiekulten gepredigt. Wer Schräges liebt, sollte sich Kluges SciFi-Produktionen mit dem manischen Alfred Edel anschauen. Diejenigen, die in Kluges Filmen auf die Welt schauen, sind in erster Linie Frauen. Kluges Credo, seine Frauen zu erfinden, um sie auf reale Parteitage oder in echte Demonstrationen zu schicken und ihnen dann noch aus dem Off ironische Kommentare nachzuschicken, hat ihm aber in den 70ern heftige Kritik von feministischer Seite eingebracht. Der Auslöser dafür war „Gelegenheitsarbeit einer Sklavin“, wo Kluges Schwester eine naiv-kluge Abtreibungsärztin spielt.

Tatsächlich „benutzt“ Kluge seine weiblichen Figuren, denn erst über ihren schiefen Blick entlarvt sich der Alltag als absurde Inszenierung. Seine Zirkusdirektorin Leni Peickert (Hannelore Hoger) lässt er in „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“ grandios an einem „Reformzirkus“ („für die Fantasie, gegen das Leistungsprinzip“) scheitern, um an ihr stellvertretend das Dilemma des Neuen Deutschen Films deutlich zu machen. Manchmal drohen Kluges Frauen tatsächlich zu erstarren, weil sie nicht nur Figuren, sondern eben auch Denkmodelle sein sollen. Trotzdem findet er für sie in seinen Filmen auch wunderbar verdrehte Melodramen. So zum Beispiel die Geschichte von Knautsch-Betty (Susanne v. Borsody), einer Nutte, die in „Die Macht der Gefühle“ ihren Zuhälter lieben lernt bei dem gemeinsamen Versuch, einen Ermordeten in letzter Sekunde durch Vorlesen und Handauflegen zu retten. Und da Kluge nicht nur ein Filmemacher und Literat ist, sondern auch mit dem Gesellschaftstheoretiker Oskar Negt dicke Soziologiebücher schreibt, kriegt diese Geschichte auch eine richtig gute Überschrift: „Abbau eines Verbrechens durch Kooperation“.

Niemals würde Kluge Liebesgeschichten ihrer selbst wegen erzählen, denn da sind die Folgen (Ehe, Abtreibung) nicht miterzählt. Überhaupt ist Filmemachen kein Selbstzweck. Für Kluge sind Filme Eingriffe in die Wirklichkeit. Deswegen hat er sich immer wieder um Kollektivproduktionen bemüht. Im Deutschen Herbst 1977 hatte der Krieg zwischen Staatsmacht und Terrorismus einen wechselseitigen Hysterisierungsgrad erreicht, wo ein Film nur das Angebot zum Innehalten sein konnte. Zusammen mit Schlöndorff, Fassbinder, Sinkel, Biermann und anderen drehte Kluge damals „Deutschland im Herbst“ – nicht um die Ereignisse erklären zu wollen, sondern um der Öffentlichkeit Zusammenhänge anzubieten und, trotz persönlicher Ohnmacht und Trauer, mit dem Nachdenken zu beginnen.

Kluges Filme wie auch seine Fernseharbeit sind ein Denken in Zitaten und „vermischten Nachrichten“, ein von listiger Vernunft geführtes Fundbüro für die Trümmer der deutschen Geschichte. Wer da nicht reinschaut, verpasst die Wirklichkeit.

Werkschau Alexander Kluge, bis 28. 2. Central-Kino, Rosenthalerstr. 39, Mitte

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