: 2001 und 68: „aufgeklärte Ratlosigkeit“
■ Was war so faszinierend am Sozialismus, wie bleiern waren die 70er und wie zum Teufel findet man Antworten auf die Fragen der Zeit – Beobachtungen einer links-linken Diskussion
Der eine schwärmt von Rudi Dutschke, von seinen Texten, die ihn mehr als alles andere „inspiriert“ hätten. Der andere geißelt die Schriften der 68er-Heldengestalt als verquastes „Fachchinesisch“ und nennt als eigenen „wichtigsten politischen Text“ den ersten Artikel des Grundgesetzes. Zwei Generationen. Der eine ist Dirk Jenke, um die 30, nach eigenem Bekunden „Politaktivist“, tätig in der Bremer Commune, lange Haare, Nickelbrille, Jeans und Sweatshirt. Der andere ist Ralf Fücks, Chef der Berliner Heinrich-Böll-Stiftung, einst 68er, einst grüner Senator in Bremen, glänzender Schädel, anthrazitfarbener Anzug, schwarzes Hemd, schwarze Socken. Überflüssig zu fragen, wer welchem Statement zuzuordnen ist. Und eigenartig, wie sich – rein äußerlich – in dem einen die Generationenmerkmale des anderen spiegeln. In Jenke vielleicht die Aufmüpfigkeit, Selbstdarstellungsfreude und Geschmacks-Abtrünnigkeit der 68er. In Fücks das dynamische Fortkommen, das „Staatstragende“ der, pardon, Generation Golf. Warum Ralf Fücks inzwischen staatstragend daherkommt, begründet er bei der Diskussion „Die Faszination des Sozialismus in der 68er Bewegung und ihre Folgen“, die am Samstag im forum Kirche im Rahmen einer Tagung stattfand, mit Erfahrung: Gewaltfreiheit gesellschaftlicher Auseinandersetzung sei eine „ganz kostbare, zerbrechliche Errungenschaft“, erklärt der Grüne, nachdem Jenke gefordert hat, die Linke müsse immer wieder diskutieren, „ob das staatliche Gewaltmonopol das Nonplusultra ist.“ Das Gewaltmonopol, erwidert Fücks, sei für ihn „inzwischen etwas, das man nicht zur Disposition stellen sollte.“
Zwischen den Polen Jenke und Fücks sitzen andere Linke, erzählen – befragt von der Radio-Bremen-Moderatorin Ulrike Petzhold – ihre Geschichten. Frank Pietrzok, heute jugendpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, erinnert sich an Polizisten in seiner niederrheinischen Heimat nahe Kalkar, die Eisenstangen bei Demonstranten suchten und „abgesäbelte Maisfelder“ hinterließen. Davon, dass er mangels Messdienerkarriere ins Berliner Exil musste, um den Kriegsdienst auszulassen. Von den vielen politischen Zirkeln in der Kreuzberger Hausbesetzerszene und von der linken Wortlosigkeit auf die Fragen der DDR–Bürger nach 1989. Von seiner Konsequenz, fortan politische Arbeit zu machen, „die mehr Leute erreicht.“ Und von seiner Sorge, „dass die soziale Frage an den Rand gedrängt wird.“ Sein Satz „Das politische Profil der Großen Koalition macht es notwendig, dass man da nicht alleine steht“, nahmen die ZuhörerInnen – jung und alt, schick und schlabberig, links in vielfältigen Formen – mit Wohlwollen hin.
Oder Heike Binne, in den 80ern aktiv in der christlichen Friedensbewegung. Ende der 80er hat sie damit aufgehört, „nicht unbedingt wegen der politischen Wende, sondern wegen des Auslaufens meiner ABM–Stelle.“ Heute ist sie Sozialarbeiterin im Brennpunkt-Quartier Lüssum und setzt hier ihr Engagement auf andere Weise fort. „Ich bilde mir nicht ein, das System verändern zu können“, sagt sie, aber sie verbessere das Leben im Quartier.
Dann Uwe Neuhaus, DASA-Betriebsratsvorsitzender und zugleich Rüstungsgegner, politisiert im Kampf um Jugendzentren, die begehrter waren als „Tischtennis mit den Popen dahinter“. Sein 68er-Irrtum: zu glauben, dass der Staat von der Mehrheit nicht akzeptiert werde. Eine „Fehleinschätzung“ , sagt Neuhaus, „weil wir uns im eigenen Saft bewegten.“
Schließlich Till Mossakowski, Kommunarde wie Jenke. Als Informatiker versucht er, die Kluft zwischen Technik-Freaks und Ahnungslosen zu verkleinern – ein Beitrag zur Veränderung einer Gesellschaft.
Mossakowski ist es, der der Versammlung die „Grundstimmung einer aufgeklärten Ratlosigkeit“ attestiert angesichts der aktuellen Herausforderungen wie Globalisierung oder Gentechnik. Denn da fehlen den DiskutantInnen die Antworten. Von Veränderungsangst, mehr als je zuvor, angesichts Entwicklungen, „die unser Menschenbild auf den Kopf stellen“, spricht Ralf Fücks. Auf Uwe Neuhaus' – und von Dirk Jenke mit Marx und Luxemburg unterstützt – Forderung nach einer Einschränkung wirtschaftlicher Macht, sagt Fücks, dafür müsse ein Ordnungsrahmen stehen, „der sich am Gemeinwohl orientiert“. Und: „Dafür sind Gesetze und Institutionen da, ganz einfach“.
Was von dieser – so ein Zuhörer – „Selbstvergewisserungsveranstaltung“ bleibt: die Verabredung, die Auseinandersetzung fortzusetzen und das Bild eines Zustandes, das Cordt Schnibben im „Spiegel“ vergangener Woche so beschrieb: „Die radikalen Gymnasiasten, die damals in Bremen auf die Straße gingen, sind inzwischen Richter, Werber, Professoren, Journalisten, Rechtsanwälte. Einige sind Sozialarbeiter in schwierigen Stadtteilen oder arbeiten als Betriebsräte – damals zur revolutionären Berufspraxis aufgebrochen, dann stecken geblieben im reformistischen Alltag. Sie sind Leute, die sich um das Gemeinwohl kümmern, immer noch, und immer noch halten sie gern Distanz zum System.“
sgi
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