: Das Ende einer Ära
■ Der kubanische Schriftsteller Abilio Estevez liest heute Abend im Literaturhaus aus seinem gefeierten allegorischen Roman Dein ist das Reich
Wenn ein kubanischer Autor den Schauplatz seiner Romanhandlung, eine Siedlung nahe Havanna, „die Insel“ nennt, sie mit exzentrischen Figuren bevölkert, die inmitten der dort üppig gedeihenden Schlingpflanzen herumgeistern, und diesen Ort auch noch in ein bewohntes „Diesseits“ und einen Wald namens „Jenseits“ unterteilt, kann der geneigte Leser sicher sein, es mit einer Allegorie großen Maßstabs zu tun zu haben.
Um nichts weniger als um Kuba selbst geht es in Abilio Estevez' erstem Roman Dein ist das Reich, der allerorten als eines der großen Meisterwerke des magischen Realismus gepriesen wird. Die Handlung trägt sich zu im vorrevolutionären Kuba im Herbst 1958, kurz vor der Vertreibung des Diktators Batista durch die kommunistischen Rebellen Castros. So lässt sich Estevez' Werk als Abgesang auf eine Ära lesen, die Silvester 1958 gemeinsam mit dem Roman zu Ende geht. Historische Fakten finden jedoch kaum Eingang in den Roman und seinen allegorischen Garten.
Das Geschehen erweist sich als ephemer, alles steht unter dem Vorzeichen der Vergänglichkeit. Die Figuren, die die „Insel“ bewohnen, erscheinen eher als Geister denn als reale Menschen. Die halbwahnsinnige barfüßige Gräfin, der alte jamaikanische Professor Kingston, die Bürogehilfin Mercedes und ihre blinde Schwes-ter Marta, die Schwarze Merengue und ihr Statuen bauender Sohn Chavito, Sebastian, der sich am Ende des Buches schließlich als Erzähler entpuppen wird, und sein Kumpel Versteh-nicht-Tingo, die gottesfürchtige Lehrerin Señorita Berta und ihre dahinsiechende Mutter Doña Juana, sie alle bilden eine fragile Kolonie am Rande der Gesellschaft.
Ihre erst nach und nach zutage tretenden Lebensgeschichten mischen sich mit Träumen und Visionen, für die es im offiziellen Kuba keinen Platz gibt. Was sie eint, ist eine über ihrem paradiesischen Garten schwebende apokalyptische Bedrohung, deren Vorboten ihren Weg in die „Insel“ finden. Ein Werk, dem der Erzähler in diesem an literarischen Anspielungen äußerst reichem Roman häufig seine Referenz erweist, ist „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Ähnlich wie Proust die geschlossenen Welten des Dorfes Combray oder der Pariser Salons dazu benutzte, das Panorama einer ganzen Gesellschaft vorm Leser auszubreiten, lässt Estevez den Kosmos seiner „Insel“ und ihrer Bewohner zur halb realen, halb mythischen Verkörperung der Insel Kuba und ihrer Geschichte werden.
Dass Estevez' komplexe Metaphern, seine sprachlichen Bilder, die sich vor allem der christlichen Ikonographie bedienen, und seine ungeheure Menge an literarischen Anspielungen auch für den deutschen Leser zu genießen sind, ist das Verdienst von Susanne Lange, die für ihre Übertragung den Übersetzerpreis der Stadt München erhalten hat. Volker Hummel
Abilio Estevez: „Dein ist das Reich“, München 2000, 475 Seiten, 48 Mark.
Lesung mit Abilio Estevez heute, 20 Uhr, Literaturhaus
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