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Warten aufs Indernet

Auch Indien will sich fit machen für die vernetzte Welt des World Wide Web. Doch die Realität sieht anders aus. Eine Reportage aus einem Land, in dem der als alphabetisiert gilt, der seinen eigenen Namen schreiben kann

von OLIVER LÜCK

Chowringhee liegt wieder einmal im Dunkeln. Das Viertel im Herzen von Kolkata, dem einstigen Kalkutta, wo überwiegend ausländische Rucksacktouristen in günstigen Unterkünften absteigen, wo die Menschen sich und ihren Alltag vollkommen auf die Bedürfnisse der wohlhabenden Besucher ausgerichtet haben, lebt mit täglichen Stromausfällen.

Die schwarze Silhouette eines barfüßigen Rikschafahrers huscht schnaufend vorbei. Blind findet er auch in der Nacht seinen Weg. Hier und da sind in den Lichtpfützen der Öllampen Gesichter schemenhaft zu erkennen. Ein Kuli balanciert scheinbar mühelos ein sofagroßes Bündel zusammengeschnürtes Papier auf dem Kopf und hastet weiter. Andere, begnadete Nichtstuer, genießen die Freuden des Nichtstuns.

Der Junge in der übergroßen Baumwollhose und den blauen Plastiksandalen bringt den Chai, ohne einen Tropfen zu verschütten. Das Aroma des Darjeeling mischt sich mit den widerstreitenden Gerüchen der Straße. Milchtee – süßlich, bräunlich und köstlich, wie er an jeder Ecke der mit fünfzehn Millionen Menschen überlaufenden Metropole gekocht und heiß serviert wird. Der Tee seines Vaters, versichert der neunjährige Reshma Khatoon strahlend, sei gewiss der beste im ganzen westlichen Bengalen.

In der Tottee Lane, einer kleinen Seitengasse, gerade breit genug, dass eines der klappernden und stets ungeduldig hupenden Taxis hindurchfahren kann, sitzt sein Vater Srikant und kocht in einem gusseisernen Kessel das Nationalgetränk. Seit kurzem läuft das Geschäft besser denn je. „Das liegt an den neuen Nachbarn“, erklärt er zufrieden und deutet auf die Reklameschilder am Nachbarladen.

Der passt nicht so recht ins traditionelle Bild einer indischen Großstadt: „E-Mail, ISDN, Fax, Hotmail“ steht dort in bunt lockenden und – wenn es die Elektrizität zulässt – auch unübersehbaren Lettern geschrieben. Davor sitzen Fremde, warten auf Strom und schlürfen Tee. „Eigentlich wollen sie nur telefonieren oder einen dieser Computer benutzen“, erklärt Srikant Khatoon und fügt noch schnell geschäftserfahren hinzu, dass diese Geduldsprobe mit einem wohlschmeckenden Tee doch weitaus angenehmer sei.

Sein Nachbar Yan Kopal hält sich gähnend die Hand vor den Mund. Gemeinsam mit seiner Mutter und seinem Bruder hat der hochgewachsene, hagere Mann „telepoint“ eingerichtet, „unseren Telefon- und Internet-Shop“, wie er stolz sagt. Allein die Anmeldung und Installation der Telefonanlage hatt sechs Monate gedauert. „Andere warten ein Jahr oder länger“, erzählt er. Doch als die Kopals vor gut eineinhalb Jahren den Bärenanteil des mühsam ersparten Familienvermögens in zwei Rechner aus zweiter Hand investierten, um diese als Onlinegelegenheit anzubieten, wurde der Pioniergeist mit beträchtlichen Einnahmen belohnt. Die Traveller rannten ihnen die nur sechs Quadratmeter enge Bude ein und besetzten die Computer fast durchweg vierzehn Stunden am Tag.

Der Konkurrenzkampf ist im Touristengetto allgegenwärtig. Gerade hier hat man das Internet als Geldquelle entdeckt. In keinem anderen Winkel Kolkatas wächst die Zahl der Shops so sprunghaft wie in Chowringhee. Gleich um die Ecke eröffnete vor einigen Monaten „net freaks“, nur zwei Quergassen weiter das „Cyber Empire Internet Cafe“ und direkt nebenan ein weiterer Laden. „Die haben sechs Rechner und sogar einen Scanner“, weiß Kopal. Ein guter Tee gleich in der Nachbarschaft sei aber mindestens genauso wichtig, weil von gegenseitigem Nutzen: „Wir arbeiten Hand in Hand und müssen gemeinsam versuchen, die Kundschaft in unserer Straße zu halten“, spricht ganz der Geschäftsmann in ihm.

Auch Joan aus Glasgow hat das Teetrinken vor dem Computer mittlerweile zu ihrem Ritual gemacht und besonders die indischen Onlinepreise schätzen gelernt. Bei Yan Kopal zahlt sie eine Rupie pro Minute, etwa fünf Pfennig. Ein guter Preis. „Anderswo in der Stadt ist es beinahe doppelt so teuer.“ Vor zwei Wochen noch musste sie im überteuerten Australien für eine Stunde im Netz sechs australische Dollar zahlen, fast acht Mark. Allerdings seien die Verbindungszeiten in Indien auch um einiges langsamer, sagt Joan. Nicht selten, so beschreibt die Fünfundzwanzigjährige, passiere minutenlang überhaupt nichts, und dann stürze das Programm auch noch oft ab. Trotzdem ist die elektronische Post die weitaus günstigere und zuverlässigere Variante, um die Lieben daheim in Schottland zu verständigen oder sich mit anderen Travellern auszutauschen und zu verabreden.

„Viele werden trotzdem sauer, wenn es mit einer Mail manchmal länger dauert“, sagt Kopal mit dieser unnachahmlichen indischen Mischung aus stoischer Gelassenheit und Erstaunen. „Ich kann daran aber auch nichts ändern. Technisch ist das bei uns alles noch lange nicht ausgereift.“

Ein antiquiertes Gesetz aus dem Jahr 1885, noch von den britischen Kolonialherren geerbt, blockierte bis vor kurzem den indischen Fortschritt. Das Kommunikationssystem, so war dort vorgeschrieben, sollte einzig von staatlicher Seite kontrolliert sein. Lange Zeit stand der nationale Netzanbieter Videsh Sanchar Higam Limited daher allein auf weiter Flur im World Wide Web. Überlastete Leitungen und Knebelverträge über fünfhundert Stunden im Voraus zu zahlende Onlinezeit folgten.

„Das ist nun endlich vorbei“, sagt Yan Kopal, was wie eine Erlösung klingt, „die Preis haben sich halbiert.“ Seit gut zwei Jahren sind private Anbieter auf dem Markt und sorgen für einen fairen Wettlauf in eine ungewisse Zukunft. Die Möglichkeiten haben sich grundlegend verbessert, wenngleich sie dem internationalen Vergleich noch lange nicht standhalten. Das sei bezeichnend für den Subkontinent, meint der Dreiunddreißigjährige enttäuscht.

Während in Bangalore oder Chennai, den indischen Silicon Valleys im Süden, global gedacht wird und Computerfirmen mit eigenen, vom chronischen Energiemangel unabhängigen Generatoren Software für die gesamte Welt programmieren, fehlt es ansonsten an den grundlegendsten Voraussetzungen eines fortschrittlichen Lebens: Nur jeder zweite Inder kann lesen und schreiben. Sechzig Prozent der Familien sind ohne Strom. In vielen Dörfern ist die Existenz des Telefons noch immer unbekannt.

Nach zehn Minuten Finsternis reißt das Blinken der nun wieder ausreichend versorgten Neonröhren so manchen aus seiner Lethargie. Yan Kopal atmet durch. Bleibt der Strom länger weg – keiner weiß, wie lang –, sind die Einnahmen gleich null. Doch schon wieder zwängt sich die Klientel hinter die wackligen Tische mit den Computern und reist für kurze Zeit zurück in die westliche Welt. Daneben hockt Phoonal Kopal in ihrem seidenen Sari und kaut gelangweilt auf einer für Gebiss wie Zahnfleisch ruinösen, aber benebelnden Mischung aus Betelnuss, Tabak und Kalk. Yans Mutter sitzt täglich hinter dem kleinen Schreibtisch und notiert die Online- und Telefonzeiten jedes Kunden minutengenau im Geschäftsbuch. Und sie kassiert. Mit der befremdlichen Technik hingegen weiß die Zweiundsechzigjährige nichts anzufangen: „Das macht Yan.“ Glücklich ist sie mit der zunehmenden Computerisierung nicht. „Wären die vielen Durchreisenden nicht“, sagt sie, „wäre unser Laden nicht profitabel.“ In den einheimischen Köpfen fristet die moderne Technik ein Schattendasein. Die Menschen hier hätten schließlich ganz andere Probleme, erklärt sie und deutet auf die Straße.

Kaum hat sie das ausgesprochen, flackern schlagartig wieder die Lichter. Die Monitore werden schwarz. Pechschwarz. Teezeit. Die Kopals und ihre Kunden müssen sich gedulden. Der Kuhdung im Lehmofen der Familie Khatoon glüht weiter und wird auch in Zukunft seinen süßlichen Geruch verbreiten. Das ist sicher, war schon immer so und wird sich auch nicht ändern.

Dass seine Söhne in wenigen Jahren zu den zehn Millionen Privilegierten gehören werden, die nach Einschätzung der indischen Regierung dann „internetifiziert“ sein sollen, will der Milchteehändler Srikant Khatoon nicht glauben. Ein verkaufter Tee bringt so viel wie eine Onlineminute. Für einen gebrauchten PC müsste der Vierzigjährige mindestens 3.600 Tassen aufgießen. Manchmal beobachtet er die surfenden Gäste von nebenan. Doch als Vorbild sieht er das, was er da sieht, nicht: „Computer werden das Monopol der Elite bleiben“, sagt er. „Wir leben in einer anderen Welt und müssen zusehen, dass wir Tee verkaufen.“

Das Internet verspricht eine fantastische Zukunft, die das Gros der mittlerweile über eine Milliarde Inder nie zu sehen bekommen wird. „Wie soll das auch gehen?“, fragt Srikant Khatoon. „Der Unterricht in den meisten indischen Schulen findet doch immer noch unter Bäumen statt.“

OLIVER LÜCK, 27, lebt als freier Journalist in Hamburg

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