: Kultur, Kölsch und Karneval
Am Schiffbauerdamm hat sich eine völlig vergessene Ecke in ein quirliges Viertel verwandelt. Eine für Mitte typische Entwicklung. Doch der Motor hier ist die rheinische Seele. Ein Straßenporträt
von KATJA GEULEN
Während viel graues Wasser die Spree hinunterfließt, tummeln sich Menschen mit anständigen Mänteln und Handys an der Bar. Manche träumen davon, dass dies der Rhein wäre. Kurz nach Büroschluss, so um fünf, muss man schon sehen, dass man noch einen Platz bekommt, dort, wo man zum Tränenpalast hinüberblicken kann und wo hinter dem Bahnhof Friedrichstraße leuchtende Kräne von regem Veränderungswillen zeugen.
Mit dem Namen Schiffbauerdamm verknüpfte sich bis vor ein paar Jahren vor allem das Brecht-Theater Berliner Ensemble. Inzwischen werden jedoch nicht nur Neu-Berliner sofort an die Ständige Vertretung, kurz StäV, denken, jene Kneipe, die sich durch Kölsch-Ausschank und rheinländische gesellige Gemütlichkeit in erster Linie bei zwangsentwurzelten Bonnern einen Namen gemacht hat.
Aus einer völlig verödeten und fast vergessenen Ecke mitten in Berlin wird langsam wieder eine frequentierte Gegend. Nun scheint sogar die Prognose berechtigt, dort zukünftig eine etablierte gastronomische Meile in den mentalen Stadtplänen anzusiedeln.
Die neuen Kneipiers sind zufrieden mit dem Standort, ist er doch „historisch“ (siehe unten), zudem in relativer Nachbarschaft zum Regierungsviertel und vor allem zur Hochkultur in Form von Theatern, was eine Mindestmenge an Gästen garantiert. Die Leute kommen noch auf ein Bier vorbei, bevor sie in die S-Bahn steigen. Und die Straße am Fluss lässt zuweilen eine romantische Stimmung aufkommen, obwohl ein richtige Uferpromenade fehlt.
Der Wandel des Ufersträßchens begann nach Mauerfall an mehreren Stellen gleichzeitig. Auf dem gegenüber liegenden Ufer, neben dem Bahnhof Friedrichstraße, wurde die Wellblechbaracke samt Postamt entfernt und zu einer repräsentativen Freifläche vor dem Bundespresseamt verwandelt. Fleißig wurden und werden in der Albrechtstraße Baulücken durch Büros und Single-Apartments ersetzt – und am Damm selbst die Gründerzeitfassaden renoviert.
Nun ist in fast jedem Haus auf dem vorderen Teil des Ufers ein Restaurant oder eine Kneipe angesiedelt. Der Trend setzt sich bis in die Albrechtstraße fort. Dort ist in einem Neubau der „Burgkeller“ untergebacht – mit Mittelalterflair und Bleiglasfenstern. Der olle kleine Bäcker musste schließen. Dafür gibt es jetzt ein Bistro mit Muffins und Bagels, eine Filiale von Kamps und eine Croissanterie. Und die Spielhalle, die direkt im Brückenfuß den Trennungsstrich zwischen belebter Neo- und fast noch unberührter Ost-Romantik markiert, heißt neuerdings Jazzclub, obwohl sie bis auf das Schild über dem Eingang unverändert ist.
Im umgebauten Berliner Ensemble erinnert nach der geglückten Geisteraustreibung nichts mehr an „früher“, an Brecht oder Müller. In der Kantine – nach wie vor Treffpunkt nicht nur für Theaterbesucher – wich der vergilbte holzvertäfelte Charme einer etwas feineren Mensa-Atmosphäre. Nur großformatige und verglaste Schwarzweißfotos mit Helene Weigel drauf weisen noch auf die Historie des Hauses hin.
Eine solche Entwicklung stellt in der neuen Mitte natürlich keine Ausnahme dar. Doch der neue Schiffbauerdamm hat eine einzigartige Auszeichnung: Er ist der größte Umschlagplatz für Gaffel-Kölsch bundesweit. Das weiß zumindest Harald Grunert, Mitbegründer der StäV, zu berichten. Der Berliner Karnevalsprinz des letzten Jahres ist stolz auf seine Gästemischung. Erstens kommen nicht nur Rheinländer, sondern auch Berliner, und zwar aus Ost wie West. Zweitens reiche die Spanne „von achtzehn bis achtzig – vom Studenten bis zum Abgeordneten, vom Arbeiter bis zum Vorstandsvorsitzenden“, so Grunert. Die „mediterrane Mentalität der Rheinländer“, wie Grunert schwärmt, mache die Kneipe so beliebt, dass sie tatsächlich jeden Abend zum Bersten voll ist.
Mit einer solchen Erfolgsgeschichte im Rücken und der „genetischen Nähe zu Rom“ liegt es nahe zu expandieren. Erst mal nach nebenan, wo die beiden Gastronomen letzten Sommer „de Kölsche Römer“ eröffneten – ein Vorzimmer der StäV mit italienischer Küche. Auf dem Abschnitt des Schiffbauerdamms, der sozusagen das rheinischen Hauptquartier darstellt, wird auch in drei Wochen wieder der Karneval voll zuschlagen – mit Pappnasen und allem was dazugehört. Und nicht nur hier: Unter den Linden will Grunert den ersten Berliner Karnevalszug seit 1958 auf die Beine stellen – 60 Wagen und 2.000 Teilnehmer sind schon angemeldet.
Die benachbarte Brokers Bierbörse nimmt den Rummel dankbar auf. Dabei ist die mit einem ganz anderen Konzept angetreten, eher eines vom Main. Hier wird Frankfurter Börse gespielt: die Getränkepreise schwanken entsprechend der Nachfrage. Essen kann man Spekulantenburger und Schweinelachs „Dow Jones“. Auch hier gibt es Kölsch, aber nur in den unüblichen 0,3-Liter-Gläsern, damit die eigens hierfür programmierte Kursschwankungs-Software nicht durcheinander kommt.
Neben der Hoch- und Trinkkultur hat auch die Wissenschaft hier einen Ort, allerdings „hinter“ der S-Bahn-Brücke, hinter den Plattenbauten, in denen nun die Fahrbereitschaft des Bundestages residiert: Den letzten Altbau hier teilt sich das Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität mit zwei sozialwissenschaftlichen Einrichtungen und dem Archiv für Alternativkulturen.
Professor Wolfgang Kaschuba schätzt die Nähe zum Reichstag und zu den Neubauten der Medienanstalten. „Im ARD-Café gegenüber kann man toll Leute beobachten, die gerne erkannt werden wollen.“ Neben dem Institut, auf dem alten Bewag-Gelände, haben sich RTL und Reuters niedergelassen.
Eine groß angelegte Feldforschung über das eigene Viertel gibt es zwar noch nicht. Man versucht aber von hier schon mal, die High-Society Berlins aufzuspüren und ihre Selbstfindung zu beobachten. Ob auf dem Schiffbauerdamm die Mischung aus Politik, Kultur, Medien und Gastronomie ihren Stammplatz findet, wird sich zeigen. Zunächst muss er nur den Rosenmontag überstehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen