: Kunst am Kuchen
Wahre Lokale (58): Das „Café König“ in Baden-Baden und seine eigenwillige Mischung aus Filz und Fett, Marzipan und Mürbeteig, Beuys-Werken und Champagnertrüffeln
Wenn der Kaffeehauskünstler über seine Profession redet, verschluckt er Silben, Worte. Die Verben lässt er weg, um noch mehr erzählen zu können, um noch einen Superlativ anzubringen: Er, Alfred Greisinger, habe die feinsten Torten im Angebot und die feinsten Tortenesser zu Gast, die reichsten und die ... mittlerweile auch die ältesten. Die schönsten leider schon lange nicht mehr. Der Blick des Kaffeehauskünstlers senkt sich. Na ja, die Tortenesser sind nicht mehr das, was sie waren, in den überschwänglichen Siebziger-, in den verschwenderischen Achtzigerjahren, aber die Torten, die sind immer noch die feinsten. Wohin sind die Reichen und jungen Schönen verschwunden? Verstecken sie sich in ihren Villen? Wovor haben sie Angst? In Baden-Baden?
Das war ein wunderbarer Traum, damals, als der Backstubenchef die Gäste im vornehmsten Kaffeehaus der Kurstadt beeindruckte: Der fingerfertige und geschmacksbildende Genussmensch unter den lernwilligen Geschmackskrüppeln. Der Kaffeehauskünstler unter den Millionären.
Längst ist der Backstubenchef zum Besitzer aufgestiegen. Und längst gehört auch er zu den Millionären im Ort. Hat der Konditor, der Patissier und Chocolatier so viele Torten modelliert, so viele Pralinen geformt, dass er sich nun auch eine Villa leisten kann? Nein, mit Maronengebäck, Punschkrapfen, Himbeer-Baiser, mit Sarah-Bernhard-Torten und Champagnertrüffeln lasse sich allerhöchstens die Rente aufstocken. Sagt der Kaffeehauskünstler. Aber woher kam das viele Geld?
Alfred Greisinger hatte ein Rezept, das er schon im Augsburger „Café Drexl“ ausprobiert hatte: Kunst und Kuchen nennt er das Konzept seiner Ausstellungs-Gastronomie für den gehobenen Kunden. Kunst und Kuchen; die Alliteration macht das Programm gleich doppelt edel. Greisinger kaufte Werke von Beuys, Cragg, Droese, Judd, Warhol. Der Kaffeehaushünstler kaufte viel, und er kaufte zum richtigen Zeitpunkt. Den Beuys-Hut mit aufliegender Schwefelplatte zum Beispiel, jenes Objekt, das der Meister eindeutig und doppeldeutig zugleich „Das Kapital“ taufte. Ach, Beuys, das ist sein allerliebster Künstler; der Mann, der mit der Stuka abstürzte und von den Tartaren mit Talg gesalbt wurde, der heilige Joseph konnte mit Filz und Fett so perfekt umgehen wie er, Greisinger, mit Marzipan und Mürbeteig.
Kunst und Kuchen. An einem Ort. „Café König“ in Baden-Baden. Die Fettquelle sprudelt, die Kronleuchter funkeln im Casino, Kunst und Kuchen in Baden-Baden. Die grandiose Ergänzung im pittoresken Wohlfühlensemble. Baden-Baden, der ideale Ort. Die ehemalige Sommerhauptstadt des europäischen Adels; mit Luftschiffen kamen die Vornehmen, die Reichen, aber auch die Künstler nach Baden-Baden geflogen. Berlioz, Brahms, Dostojewski, Hugo, Liszt, Tolstoi, Turgenjew, ach, die Künstler. Und dann, nach dem Zweiten Weltkrieg, Max Beckmann, Pierre Boulez, Alfred Döblin, Paul Hindemith und Otto Klemperer. Sie alle landeten zwar nicht mehr mit dem Zeppelin, aber die Eisenbahn tat’s ebenso.
Und heute? Kunst und Kuchen? Das ideale Rezept am idealen Ort? Leider mundete die eigenwillige Mischung der Zutaten den gehobenen Kunden des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts nicht so, wie der Kaffeehauskünstler sich das vorgestellt hatte. Die Tortenesser interessierten sich nur für die Torten, und die Größen des Kunstmarktes hielten Diät. Fernsehschauspieler schauten weiterhin im „Café König“ vorbei, wohl wahr. Der Espresso ist einzigartig, die heiße Schokolade fantastisch. Der gründerzeitliche Raum, ausgeschmückt mit allerlei Plüschdekor, hat noch jeden Banausen beeindruckt. Nicht zu vergessen die Torten.
Aber Baden-Badens Millionäre mochten den Beuys nicht, den Droese und den Judd nicht. Kunst im Kaffeehaus, muss das sein? Antiquitäten aus dem 18. und 19. Jahrhundert, gewiss! Die Modernen sind abgehängt, eine Büste Napoleons steht über dem Kamin. Der Kaffeehauskünstler hat seine Sammlung zum richtigen Zeitpunkt verkauft. Immer noch steht der Kaffeehauskünstler hinter dem Tresen und verkauft Torten, die feinsten Torten in Baden-Baden. Er redet von den vergangenen Jahrzehnten, als die Millionäre ihre Millionen noch ausgaben, als sie alle ins „Café König“ strömten, die Reichen und die ... – nein, schön waren die wenigsten. Alfred Greisinger verschluckt Silben, Worte.
Im Schaufenster liegt ein Aquarell von Beuys. Eine Kopie?
CARSTEN OTTE
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