Die Rückkehr der toten Seelen

Die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes kann helfen, neue Betriebsräte zu gründen. Doch sie werden machtlos sein. Es fehlen die wichtigsten Mitbestimmungsrechte

Je schwächer dieVerhandlungsposition der Beschäftigten,desto dringlicherist eine Gesetz

„Jeder Betrieb sei unsere Burg“ – so sah man es lange Jahre in den Reihen der Arbeiterbewegung. Dort, in den Fertigungshallen und an den Fließbändern der Großindustrie, sollte das Proletariat zusammengeschweißt, sollte es, solidarisch verbunden, zur kollektiven Aktion befähigt werden. Und die gewählten Betriebsräte sollten die Basis abgeben, auf der sich das künftige Rätesystem erhob. Diese Blütenträume zerstoben, aber noch die Weimarer Reichsverfassung bewahrte einen matten Abglanz der ursprünglichen Ideen. Erst das Betriebsverfassungsgesetz der frühen 50er-Jahre räumte mit ihnen auf. Auch nach der Neufassung des Gesetzes, die die SPD/FDP-Koalition in den 70er-Jahren unter dem Banner „Mehr Demokratie wagen“ unternahm, blieben durchsetzbare Rechtspositionen der Betriebsräte auf einen engen sozialpolitischen Bereich begrenzt. Der aber wurde noch durch eine restriktive Rechtsprechung eingeschränkt.

Es hat stets linke Theoretiker gegeben, die sich aus einer Erweiterung der betrieblichen Rechte Freiräume für die „unmittelbaren Produzenten“ erhofften. Sie setzten auf Lernprozesse, auf eine Art Durchgangsstadium zur industriellen, zur „sozialen“ Demokratie. Wie so oft in der Geschichte erfüllten sich diese Hoffnungen auf eine perverse, von den Hoffnungsträgern weder erahnte noch erwünschte Weise. Es waren ausgerechnet Teile des Managements, die in den letzten zwanzig Jahren die Idee der Partizipation aufgriffen, um Arbeiter und Angestellte in das System der Rationalisierung einzubinden. Man wollte sich ihrer Erfahrungen und ihres kreativen Potenzials versichern, um die Produktionsprozesse zu optimieren und zu effektivieren. An die Stelle des „Jeder Betrieb sei unsere Burg“ trat die Identifizierung mit den „gemeinsamen“ Firmenzielen. Es entstand das Idealbild des Beschäftigten als Pseudounternehmer, der stets eifrig bemüht ist, Rationalisierungslücken aufzuspüren. Im Zeichen der erstrebten „High Quality“ wurden den Facharbeitern, beispielsweise bei Opel, Kompetenzen übertragen, von denen sich die Verfechter der Selbstbestimmung im Produktionsprozess nichts hatten träumen lassen.

Dieser neuen Linie entsprach ein vollständiger Umbruch im Produktionsprozess selbst. Von der Zentralität der Betriebe und damit auch von der sichtbaren Achse des Klassengegensatzes ist heute nur noch wenig übrig geblieben. In immer rascheren Zyklen werden größere Firmeneinheiten aufgelöst, Teile des Fertigungsprozesses ausgelagert, immer kleinere Betriebe ökonomisch verselbstständigt. Den schrumpfenden Stammbelegschaften, auf die sich einst die betriebliche und gewerkschaftliche Gegenmacht stützte, steht eine immer größere Zahl von Beschäftigten gegenüber, die – beispielsweise als Scheinselbstständige oder Leiharbeiter – nicht mehr als Träger kollektiver betrieblicher Kampferfahrung in Frage kommen.

Gerade in den fortgeschrittenen Teilen der Industrie, so in der IT-Branche, vermehrt sich der Typ des zigeunernd herumschweifenden „Mitarbeiters“. An seiner Selbstausbeutungsmentalität prallen alle Versuche gewerkschaftlicher Organisierung ab; sie werden nur noch von den minder glücklichen Beschäftigten in den Call-Centern oder den verbliebenen Produktionsstätten aus unternommen. Was für die Gewerkschaft zutrifft, gilt ebenso für die Betriebsräte. Ihre Zahl schmilzt. Denn zu den „betriebsratsfreien Zonen“ der traditionellen Kleinbetriebe gesellen sich jetzt die Unternehmen der New Economy.

Um dieses unerfreuliche Bild abzurunden, muss noch auf die disziplinierenden Wirkungen der Massenarbeitslosigkeit verwiesen werden, eine Erscheinung, die den Autoren des Betriebsverfassungsgesetzes auch in seiner sozialliberalen Fassung noch nicht vor Augen stand. Jeder Ansatz einer rot-grünen Reform dieses Gesetzes stand daher vor einer zweifachen Minimalaufgabe: Zum einen war ein Netz auszuwerfen, durch das ein Teil der zerstreuten Belegschaften wieder „betriebsratsfähig“ wurde, und waren Erleichterungen einzuführen, die Betriebsratswahlen in Kleinbetrieben überhaupt erst ermöglichten. Und zum Zweiten galt es, erzwingbare Mitbestimmungsrechte bei Betriebsänderungen durchzusetzen, um wenigstens ansatzweise künftigen Entlassungswellen vorzubeugen. Im Ergebnis kann man festhalten, dass der Entwurf, auf den sich jetzt die Minister Müller und Riester geeinigt haben, gerade bei diesem Schutz vor Kündigungen versagt. Gegenwärtig gibt es keine Kraft, die ernsthaft versuchen würde, in das Direktionsrecht der Kapitalseite einzugreifen. Schon gar nicht ein Kanzler Schröder, dessen Credo „Nichts gegen die Wirtschaft“ lautet.

Aber es handelt sich bei dem Mitspracherecht bei Betriebsänderungen nicht um Wirtschaftsdemokratie, um unternehmerische Gestaltung, sondern um effektive Schutzrechte der Arbeitnehmer. Daher erscheint mir eine Auseinandersetzung über die Frage dringlich, welche Schutzmaßnahmen zur Jobsicherung eigentlich einer gesetzlichen Lösung bedürfen und welche tarifvertraglich beziehungsweise (mit noch schwächerer Verbindlichkeit) über Betriebsvereinbarungen zu regeln sind. Von Unternehmer-, aber teilweise auch von Gewerkschaftsseite wird ins Feld geführt, die Sachverhalte seinen so vielfältig und kompliziert, dass man sie nur auf Betriebsebene lösen könne. Anders vorzugehen hieße, dem Moloch der bürokratischen Verrechtlichung anheim zu fallen. Die Frage ist jedoch, wie sich die Kräfteverhältnisse im Betrieb darstellen, das heißt, ob ein Vertrag überhaupt unter der Bedingung eines relativen Klassengleichgewichts abgeschlossen werden kann. Immer noch gilt das Prinzip: Je schwächer die Verhandlungsposition der Beschäftigten, desto dringlicher eine gesetzliche Regelung.

Ob mit dem jetzt gefundenen Kompromiss der Verfall der Betriebsrätevertretungen gestoppt werden kann, hängt erstens von der Fähigkeit der Gewerkschafter ab, den Belegschaften die Nützlichkeit von Betriebsräten nachzuweisen und dem „Herr im Haus“-Standpunkt der Chefs die Stirn zu bieten. Dazu gehört die Einsicht, dass vor dem Konsens mit den Unternehmern die Konfrontation steht.

An die Stelle von„Jeder Betrieb sei unsere Burg“ trat die Identifizierung mit den Firmenzielen

Vielleicht noch wichtiger scheint mir zweitens die Befähigung, der Sache der betrieblichen Vertretung zu einer öffentlichen Resonanz zu verhelfen. Hier könnten sich die Bestimmungen des neuen Gesetzes als hilfreich erweisen, die eine Repolitisierung der Betriebsratsarbeit begünstigen: Die Arbeitnehmervertreter sind jetzt auch zuständig für Gleichstellungsfragen, die Integration ausländischer Beschäftigter, den Umweltschutz im Betrieb, den Kampf gegen den Rechtsextremismus. Bislang hat das „duale“ System der Arbeitsteilung zwischen Gewerkschaften und Betriebsräten zu einer fortschreitenden Entpolitisierung der Betriebsratsarbeit geführt. Würde diese Tendenz umgekehrt, so könnten die Betriebsräte die wichtigste künftige Ressource anzapfen – öffentliche Aufmerksamkeit.

CHRISTIAN SEMLER