: Die Fragen sind heute die gleichen
Ton Steine Scherben revisited: Christoph Schuchs Dokumentation „Der Traum ist aus“ (Panorama) nähert sich der Band über alte und junge Musiker. Politischer Nachlass und Mythos der Politrock-Kommune werden kaum untersucht
von THOMAS WINKLER
Alles beginnt mit dem Ende. Bilder aus dem Friesischen, die vergammelnden Häuser von Fresenhagen, das Grab von Rio Reiser. „Der Traum ist aus“, singt er aus dem Off, „aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird.“ Also fragt „Der Traum ist aus“, die Dokumentation von Christoph Schuch, was geworden ist aus dem Traum, den Ton Steine Scherben träumten. Schuch forscht nach den Spuren, die Reiser und seine Scherben hinterlassen haben in dieser Republik.
Der Film sucht weniger nach dem politischen Nachlass als nach den musikalischen Spuren. Die Zeugen, die er befragt, sind nahezu ausschließlich Musiker: von Tocotronic, Element of Crime, Die Sterne, Christiane Rösinger (Ex-Lassie-Singers, jetzt Britta), Dritte Wahl, Das Department, Tilman Rossmy. Zuerst einmal aber beginnt die Spurensuche in der Vergangenheit. Zu Wort kommen die Überlebenden wie Ex-Scherben-Musiker und Manager Nikel Pallat, der dereinst den Talkshow-Tisch per Axt zerlegte, oder Rios Bruder Gert Möbius, der den Reiser-Nachlass in einem Archiv in Berlin verwalten lässt. Schlagzeuger Funky Götzner, neuerdings mit der Revival-Band Neues Glas aus Alten Scherben unterwegs, muss immer lachen, sogar wenn er von den wegen ständigen Geldmangels nötigen Essensrationierungen in Fresenhagen erzählt. Die Zeitzeugen und die alten Bilder rekapitulieren die Geschichte von der Politrock-Kommune, die in den Siebzigerjahren die Straßenschlachten Berlins vertont, dann aufs Land flüchtet, wo die „Freie Republik Fresenhagen“ schließlich aber an den eigenen Ansprüchen und nicht zuletzt auch an den Finanzen scheitert.
Diese Geschichte ist altbekannt und wird verdientermaßen hier auch sehr verkürzt behandelt. Die schon damals aufgetretenen Zerwürfnisse, der Streit um den Umgang mit dem Erbe kommen dagegen nicht vor, die Scherben werden als bis heute funktionierende Einheit gesehen. So fällt der Name von Gitarrist Lanrue, neben Reiser die dominierende Figur der Scherben, mittlerweile in Portugal lebend und mit dem Rest verstritten, kein einziges Mal. Fast scheint es, als sollten krampfhaft die aktuellen, zum Teil ja auch gerichtsnotorischen Streitigkeiten erst gar nicht erwähnt werden.
Die Frage aber, wie die Scherben und Reiser nach seinem Tod mystifiziert wurden, die interessiert den Film von vornherein nicht. Stattdessen: Anschlüsse an die Jetztzeit. Es gibt, so viel wird klar, eine diffuse Bewunderung für die Scherben. „Man kann heute nicht mehr singen: Fickt das System“, sagt Frank Spilker von Die Sterne, „dazu fehlt einfach die Jugendbewegung.“ Anschließend spielen Tocotronic „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“, und da wird klar, wo die Unterschiede liegen. Die Slogans von damals sind nicht mehr möglich, heute wird ironisiert, verklausuliert, distanziert, mit Rollen gespielt. Und das Politische und das Private sind nur weitere dieser Rollen.
Schlussendlich aber bleiben die Fragen die alten, und der Film stellt sie: Welche politische Funktion kann Musik haben? Kann die Welt überhaupt verändert werden? Fragen, die die Scherben damals allein durch ihre Existenz gestellt haben. Die vielleicht auch heute gestellt werden, aber anders.
Jeder Satz, den die Scherben je gesungen haben, ist heute noch ebenso wahr, stellt Jan Müller von Tocotronic fest, um resigniert zu schließen, dass man sie heute halt nicht mehr so singen könne. Die Fragen, so scheint es, werden heute wie damals nicht beantwortet werden können, denn am Ende des Tages kann man nur alles geben: Dass der Traum Wirklichkeit werde.
„Der Traum ist aus – Die Erben der Scherben“. Regie & Buch: Christoph Schuch, Deutschland, 91 Min.
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