: Die Emigration der mobilen Mittelschicht
taz-Serie „Migration und Bildung“ (Teil 8): Aus Sorge um die Bildung ihrer Kinder ziehen Deutsche und Türken in Bezirke mit wenigen Ausländern
von JULIA NAUMANN
Die Diplompädagogin Pia Keukert wohnt in Treptow. Ein angenehmes Wohnviertel mit viel Grün und wenig Autoverkehr. Doch zur Schule gehen ihre beiden Söhne in Kreuzberg. „Meine Kinder sollen eine Klasse mit verschiedenen Nationalitäten besuchen“, sagt die 43-Jährige. Die Schule im Einzugsgebiet, nur wenige Meter von der Wohnung entfernt, ist eine überwiegend deutsche. Keukerts Söhne besuchen die Niederlausitz-Grundschule in der Reichenberger Straße. Dort sind 55 Prozent der Kinder nichtdeutscher Herkunft – so wie in den meisten Schulen im ehemaligen SO 36. „An den Kreuzberger Schulen finden wir ein Stück gesellschaftliche Realität. Dadurch lernen die Kinder“, begründet Keukert die Schulwahl. Ramadan und Newroz seien für ihre Söhne ganz normale Feste geworden. „Nur Kinder aus deutschen Mittelschichtsfamilien in einer Klasse sind keine Herausforderung“, ist sie überzeugt.
Doch mit ihrer Meinung steht die Mutter relativ allein da. Immer mehr Eltern wandern aus Gebieten mit hohem Ausländeranteil ab. „Die mobilen Mittelschichten ziehen seit einigen Jahren aus diesen Kiezen weg“, weiß der Stadtsoziologe Hartmut Häußermann. Sie befiele eine „Statuspanik“: die Angst, dass die Kinder nicht die gleiche Bildung bekämen wie die Eltern.
Getrickste Schulwechsel
Und Eltern, die nicht wegziehen, wenden Tricks an, um Schulen mit hohem Ausländeranteil zu vermeiden. Normalerweise müssen sie ihre Kinder an der Grundschule ihres Wohnviertels anmelden. Ausnahmen sind offiziel nur erlaubt, wenn etwa ein besonderes Schulprogramm angeboten oder die Betreuung des Kindes wesentlich erleichtert wird, zum Beispiel durch die Großmutter. Nicht wenige Eltern melden daher ihr Kind für einige Monate bei Freunden in einem anderen Bezirk an oder erfinden gar eine Oma. Dass wissen auch die Schulverwaltung und die Bezirke. Sie reagieren mal mehr, mal weniger kulant auf die Elternwünsche. In Neukölln hat Schulstadtrat Wolfgang Schimmang (SPD) ausgerechnet, dass jedes 7. Kind auf Wunsch der Eltern nicht in die vorgesehene Schule geschickt werden soll. Die Gründe sind vielfältig: ein besseres Schulprofil, ein sicherer Schulweg, aber auch der Grund „zu viele Ausländer“, weiß Schimmang. Neukölln entspricht in der Regel diesen Wünschen, denn „alles andere wäre nicht gut für das Schulklima“.
Wovor haben die deutschen Eltern eigentlich Angst? „Wenn das Sprachniveau schlecht ist, dann sinkt das Niveau der Klasse erheblich“, sagt Angelika Hüfner, pädagogische Referentin von Schulsenator Böger (SPD).
Rainer Lehmann vom Institut für Allgemeine Pädagogik an der Humboldt-Universität hat durch Tests und persönliche Befragungen herausgefunden, dass die Leistungsstände bei Kindern nichtdeutscher Herkunftssprache generell niedriger sind. In Berlin haben 30 Prozent der türkischen Jugendlichen überhaupt keinen Schulabschluss, bei den Deutschen sind es nur etwas mehr als 10 Prozent. Und: Das Leistungsniveau der Klasse sinkt, je mehr Kinder mit Migrationshintergrund in der Klasse sind, hat Lehmann errechnet. Das gilt auch für die ausländischen Kinder selbst. Die Lehrer müssten sich zwangsläufig an das niedrige Niveau anpassen, so das Fazit des Professors. „Deshalb kann ich unter den derzeitigen Verhältnissen das Verhalten der deutschen Eltern verstehen, die Kinder an andere Schulen zu schicken“, sagt Lehmann.
Ein Schichtenproblem
Michael Nové, der Fortbildungen für Lehrer am Landesinstitut für Schule und Medien (Lisum) anbietet, hält die Wegzüge dagegen „hauptsächlich für ein Schichten- und nicht für ein Nationalitätenproblem“. Neuerdings ziehen auch türkische Eltern weg, weiß Hannelore Kern, die bis Ende vergangenen Jahres Schulstadträtin in Kreuzberg war. Zurück bleiben häufig sozialschwache deutsche Kinder. Auch die sind kein Sprachvorbild für ihre Mitschüler.
Deshalb fordern Lisum-Mitarbeiter seit Jahren eine gemeinsame Förderung für alle Kinder. Für Schulen in sozialschwachen Kiezen wollen sie eine ganztägige Öffnung, bessere Ausstattung und qualifizierte Lehrer. Diese sollen den Schülern erst einmal das Lernen beibringen. Denn viele dieser Kids haben vor der Einschulung nie einen Bleistift oder ein Buch in der Hand gehabt.
Das ist nicht billig, doch die gesellschaftlichen Folgekosten für steigende Jugendarbeitslosigkeit und spätere Abhängigkeit von Sozialhilfe sind wesentlich höher. „Doch in der Schulverwaltung finden wir kein Gehör“, klagt Lisum-Mitarbeiter Nové. Zusätzliche Mittel sieht die Schulverwaltung momentan nur für nichtdeutsche Kinder vor, die deutsch erlernen sollen.
Auch für die Verteilung von Kindern mit Migrationshintergrund ist die Sprache entscheidend, nicht soziale Kriterien. Eigentlich sollen nur ein Viertel der Kinder einer Klasse „nicht ausreichend Deutsch“ sprechen. Doch Sprachstandsmessungen gibt es nur in einigen Bezirken. Und die Methoden dafür sind veraltet. Sind mehr Kinder mit nicht ausreichenden Deutschkenntnissen an einer Schule angemeldet, so heißt es in den Organisationsrichtlinien, dann können diese „überschulisch und überbezirklich“ verteilt oder spezielle Förderklassen eingerichtet werden.
Doch beides wird kaum angewendet. Ersteres, weil es „unpraktikabel“ sei, so Angelika Hüfner von der Schulverwaltung. Zweiteres hat viele Gründe: Die Förderklassen sind kostenintensiv, weil nur 15 Kinder sie besuchen. Und die Schulleiter hatten in der Vergangenheit Schwierigkeiten, die Kinder nach der zweijährigen Förderung in Regelklassen zu integrieren. Zwangsläufig entstehen Klassen mit einem hohen Anteil nichtdeutscher Kinder.
Für Lisum-Mitarbeiterin Sanem Kleff ist das ausschlaggebende Kriterium nicht die „Masse der Kinder“, sondern die „Qualität des Unterichts“. Das Leistungsniveau hänge nur bedingt an der Herkunft der Kinder, ist Kleff überzeugt: „Es gibt Standorte mit 70 Prozent Kindern mit Migrationshintergrund, und da läuft es ganz hervorragend.“
Einstweilen besteht ein Patchwork aus Konzepten und Modellen: Für Heidi Kölling von der Niederlausitz-Grundschule ist das beste Rezept ein Schulprogramm, das Kinder nichtdeutscher Herkunft fördert und deutsche Kinder gleichermaßen einbezieht. An ihrer Schule wird seit Jahren konsequent binnendifferenzierter Unterricht angeboten – Lernschwache und Lernstarke bekommen unterschiedliche Aufgaben zugeteilt.
An der nicht weit entfernten Nürtingen-Grundschule wurde hingegen ein Montessori-Zug eingerichtet, den 60 Prozent deutsche und 40 Prozent türkische Kinder besuchen. „Montessori erlaubt den Unterricht mit sehr unterschiedlichen Leistungsfähigkeiten“, erklärt Schulleiter Gerd-Jürgen Busack. Dadurch seien sogar deutsche Eltern dazugewonnen worden. Denn durch den Montessori-Zug können auch Kinder geworben werden, die nicht im unmittelbaren Einzugsbereich wohnen. Der Nachteil: an anderen Schulen steigt so der Ausländeranteil.
Konzepte fehlen
Andere Schulleiter haben bereits resigniert. „Bis vor drei Jahren haben uns die deutschen Eltern die Schule eingerannt“, sagt Wolfgang Hildmann von der musikbetonten Humboldthain-Grundschule in Wedding. Heute geben viele deutsche Eltern ihr Kind auf ein nahe gelegenes Gymnasium, dass schon mit der 5. Klasse beginnt, oder in Grundschulen in Mitte, die eine bessere Nachmittagsbetreuung anbieten. „Die Schulverwaltung hätte die ausländischen Kinder früher umschichten sollen“, ist seine etwas ratlose Meinung.
Doch „busing“ – also Kinder nichtdeutscher Herkunft mit Schulbussen in Schulen anderer Stadtgebiete zu fahren, wie es in den USA in den 60er-Jahren praktiziert wurde – ist offiziell kein Thema in der Schulverwaltung. Michael Nové vom Lisum schlägt eine einfachere Lösung vor: eine Neufassung der Schuleinzugsgebiete. Dann könnte etwa Kreuzberger Eltern ihre Kinder auch in Randgebiete von Mitte, Friedrichshain oder Treptow zur Schule schicken.
Ansatzweise verwirklicht ist das Konzept an der City-Grundschule im nördlichen Teil der Adalbertstraße. Die kleine Schule in Mitte hat mittlerweile ein Drittel Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache. Die meisten von ihnen sind Kinder bildungsbewussterer Türken. Die Schule bietet eine ausgedehnte Nachmittagsbetreung an, das ist der große Pluspunkt. Nach Angaben des Schulleiters gibt es keine Probleme. „Wir sind langsam gewachsen und haben niemandem etwas übergestülpt.“
In der Schulverwaltung gibt es keinen Entwurf, wie mit der stetigen Abwanderung der deutschen Eltern umgegangen wird. Die Mitarbeiter raten den Schulen immer häufiger, alle deutschen Kinder eines Jahrgangs in eine Klasse zu stecken. Dadurch entstehen jedoch Klassen, in denen gar keine Deutschen mehr sind. Für die mag das sinnvoll sein. Denn so werden sie nicht zur Minderheit. Die türkischen Eltern fühlen sich jedoch diskriminiert: „Reine Ausländerklassen“, sagt Kazim Adin, Vorsitzender des türkischen Elternvereins, „fördern nicht die Integration.“
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