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„Das Opfer wird uns nicht erlösen“

Interview: MANFRED KRIENER

taz: Herr Richter, seit Wochen vergeht kein Fernsehabend ohne Kameraschwenks durch Schlachthäuser und Kadaveranstalten. Wir sehen abgeschnittene Kuhköpfe und Personen mit blutverschmierter Schürze, die mit Kettensägen Rinderleiber zerteilen. Was machen diese Bilder mit uns?

Horst-Eberhard Richter: Die Bilder durchbrechen unsere Verdrängung. Wir leben seit Jahren in der Illusion, dass wir verantwortungsbewusst mit den Tieren umgehen, dass sie Gefährten unseres Lebens sind. Wir haben deshalb in unserem Tierschutzgesetz festgeschrieben, dass Tiere Mitgeschöpfe sind, deren Wohlbefinden unserer Verantwortung obliegt. Jetzt zerstören diese Bilder die Illusion von unserer Anständigkeit gegenüber dem Tier.

Und wir werden mit dem Schlachten konfrontiert. Würstchen kamen bisher aus der Einkaufstüte, Schnitzel aus dem Styroporpack. Jetzt müssen wir der Wirklichkeit ins Auge sehen. Wie tief prägen sich solche Bilder ein?

Gefährdet sind vor allem Kinder, die solche Bilder oft nicht mehr loswerden. Ich hatte aber auch einen erwachsenen Patienten, der nach dem Mitansehen einer Schlachtung Angstanfälle bekam. Unsere Sensibilität ist manchmal größer, als wir ahnen. Wir erleben gegenwärtig tiefe Schuld- und Schamgefühle. Zugleich tauchen Fantasien auf, die mich an die Anfänge der Aidsepidemie erinnern. Damals wurde Aids von bestimmten Kreisen als Strafe Gottes angesehen. Auch bei BSE haben wir die Vorstellung, dass diese Krankheit die Strafe des Himmels ist. Jetzt müssen wir dafür abbüßen, dass wir so gewalttätig mit der Natur umgehen und die Tiere wie Produktionsmaschinen gehalten haben.

Ganz falsch ist diese Logik nicht. BSE ist ja tatsächlich die direkte Konsequenz unserer Tierhaltung.

Das kann man mit einiger Berechtigung so sehen. Wir haben die Rinder gezwungen, Fleisch- und Knochenmehl ihrer eigenen Art zu fressen. Das ist eine Vergewaltigung dieser Tiere, ein ungeheuerlicher Eingriff in ihre Natur. Jetzt bekommen wir die Quittung.

Es gibt bisher 29 BSE-Fälle. In pädagogisch wirksamen Abständen tröpfelt alle zwei bis drei Tage ein neuer Fall auf uns nieder und verhindert das Vergessen. Wie lange können wir in diesem Alarmzustand bleiben?

Das hängt von den Medien ab. Wie werden sie uns den Fortgang der Seuche präsentieren? Neben BSE geschehen aber noch viele andere Grausamkeiten auf dieser Welt. Ich darf Sie nur daran erinnern, dass im Irak zigtausende Kinder an den Folgen des Embargos sterben. Das wird uns aber nicht berichtet. Wir müssen nicht in diese Kinderaugen sehen. Ohne die Bilder ist die Wahrscheinlichkeit einer Abstumpfung und Gewöhnung groß.

Die Medien haben vereinzelt schon vor BSE über die Exzesse der Massentierhaltung berichtet. Haben die Menschen Ihrer Meinung nach eine realistische Vorstellung davon, wie Hähnchen und Puten gemästet werden, was bei Tiertransporten geschieht, wie ein moderner Schweinestall aussieht?

Wer auch nur ein einziges Mal wenige Minuten einer Fernsehreportage über die Massentierhaltung gesehen hat, wer etwas über die Massentötung von Küken (*) gelesen hat, über die torkelnden Puten, die sich wegen ihres großen Brustmuskels schwer auf den Beinen halten können, der weiß, dass diese Tiere elend eingepfercht und gehalten werden, und der wird diese Bilder nicht vergessen. Mir geht es jedenfalls so.

Die Leute wissen also, was sie an den Fleischtheken der Supermärkte zum Billigpreis einkaufen?

Sie verdrängen das und glauben, dass gerade ihr Hähnchen, das sie in den Einkaufswagen legen, frei herumgelaufen ist, Sonne und Wiese gesehen hat. Zur Selbstschonung gibt es genügend Mechanismen in uns. Wir Älteren kennen das aus Kriegszeiten, wo wir ständig Grausamkeiten ausgesetzt waren. Durch eine Abspaltung können wir die Gefühle von den Bildern trennen. Soldaten haben mit Appetit gegessen, während um sie herum das Grauen geschah. Mit Hilfe solcher Mechanismen schaffen wir es, auch an der Fleischtheke vergnügt zu bleiben, ohne uns zu vergegenwärtigen, dass hier ein Tier umgebracht worden ist, das zuvor auch noch schlecht aufgezogen wurde.

Unzählige große Köpfe haben sich gefragt, ob wir überhaupt Tiere schlachten und essen sollen. Welche Rechtfertigungsmuster haben wir?

In früheren Zeiten war klar, dass wir ein Tier töten, um unseren Nahrungsbedarf zu stillen. Wir töten, um zu leben. Das Tier ernährte uns, und das schuf eine Art Ausgleich, man könnte beinahe sagen: eine Art Gerechtigkeit. Genau dies fehlt jetzt, und das empört uns. Jetzt werden die Rinder getötet, um sie anschließend zu verbrennen. Wir können unser Empfinden von Scham und Schuld am Tötungsvorgang nicht mehr ausgleichen, indem wir das Tier essen.

Renate Künast hat sich zu der heftig umstrittenen Massentötung durchgerungen. Gleichzeitig verspricht die Landwirtschaftsministerin die große Agrarwende. Wie sehen Sie ihre Rolle?

Auf ihren Schultern ruht beinahe eine Erlösungshoffnung. Renate Künast verspricht eine Revolution, eine andere Tierhaltung, eine andere Landwirtschaft. Da wird ein großer Reinigungsprozess in Gang gesetzt. In gewisser Weise erinnert mich das an die Rolle von Angela Merkel während des CDU-Parteispendenskandals. Eine Figur, möglichst eine Frau, führt uns aus der Schande heraus und reinigt uns. Solch ein Prozess berührt uns tief. Und die Faszination, die schon nach kurzer Zeit von Frau Künast ausgeht, hat viel mit dieser Rolle als Erlöserin zu tun.

In der EU sollen 1,5 Millionen Rinder geschlachtet und verbrannt werden. Ein gigantisches Tieropfer auf dem Altar unserer Landwirtschaft. Welchem Gott wird hier geopfert?

Wenn überhaupt, ist es ein Opfer an die Göttin der Ökonomie. Es wäre schön, wenn es ein wirkliches Opfer wäre. Opfer bedeutet, dass etwas mit Schmerzen und Entbehrungen preisgegeben wird, an dem man hängt. Hier geht es nur um die Marktbereinigung, um die Preisgabe eines riesigen Überschusses. Die Hoffnung auf eine Erlösung durch diese Opfergabe wird sicher enttäuscht.

Die schlimmste Frage ist wohl diejenige, ob man für diese Massentötung ist oder dagegen und was die Alternative sein könnte. Ist man für die Keulung ganzer Herden, wenn ein BSE-Fall aufgetreten ist oder dagegen? Wie finden Sie aus dieser Ausweglosigkeit heraus?

Das ist schwierig. Als Psychoanalytiker sehe ich auch die Besitzer solcher Herden. In Großbritannien soll es nicht wenige Selbstmorde unter den betroffenen Bauern gegeben haben. Auch in Deutschland haben sich nach den Massenkeulungen von Schweinen während der letzten Schweinepest viele Tierhalter umgebracht. Die Menschen hängen eben an ihren Herden. Es wird unterschätzt, dass die Gewalt gegen die Tiere auch in den Menschen etwas anrichtet. Menschen werden in ihrer Selbstachtung beschädigt. Man muss sein Mitempfinden schon stark unterdrücken, um unbelastet weiterzuleben. Das erste Reichsstrafgesetz zum Tierschutz wurde schon 1871 erlassen mit einer Strafandrohung gegen Tierquälerei und Misshandlung. In dem Gesetz stand aber nicht die Sorge um das Tier im Mittelpunkt, sondern um das Mitgefühl des Menschen, der solche Quälereien mit ansehen muss. Das ist für mich als Analytiker ein plausibler und ernst zu nehmender Gedanke. In uns Menschen wird etwas verletzt und gekränkt. Wir haben in uns eine Instanz des Mitfühlens, des Helfens. Wenn man nun ein besonderes Verhältnis zu den Tieren hat, weil sie auf dem eigenen Hof stehen, ist das Verbrennen noch schlimmer. Es geht ja nicht nur um den wirtschaftlichen Verlust. Hier kommt es dann zu intensiven Trauerreaktionen bis zum Suizid.

Kinder haben oft eine ähnlich tiefe Bindung zu Tieren. Sie sind stark verunsichert. Man sagt ihnen, die Kühe seien krank. Die älteren Kinder kriegen genau mit, was wirklich los ist.

In vielen Familien haben die Eltern Mühe, ihren Kindern den Speiseplan zu erklären. Wenn die Kinder dann noch die Fernsehbilder sehen, geht möglicherweise in ihnen etwas kaputt, für lange Zeit. Ich kenne Kinder, die kein Fleisch mehr essen, weil sie entsprechende Fernsehberichte gesehen haben.

In den nächsten Jahren wird es immer neue BSE-Fälle geben. Können wir wieder ein Stück Normalität erreichen, wird der Appetit auf die Rindsroulade zurückkommen?

Wir haben das Beispiel Großbritanniens mit einer astronomischen Zahl an BSE-Fällen. Dennoch hat der Rindfleischverbrauch dort beinahe wieder alte Margen erreicht. Die Verweigerung des Verbrauchers wird nicht ewig anhalten, zumal uns die Wissenschaftler beruhigen, dass die Risiken für Menschen relativ gering seien und es einer genetischen Disposition bedarf, um die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit zu bekommen. Die Tendenz zur Verdrängung wird also zunehmen, sofern dies nicht durch neue aufregende Umstände und Bilder durchbrochen wird.

In Deutschland sind wir immer ein wenig sensibler als in Großbritannien.

Die Sensibilität für die Umwelt, für die Friedensbewegung und für Menschenrechte scheint in unserem Land tatsächlich ausgeprägter zu sein. Ich sehe das nicht als Hysterie an, sondern meine, dass uns dies zur Ehre gereicht. Es geht um reale Probleme. Es geht um den Missbrauch der Macht über die Natur. Der Mensch begreift sich nicht mehr als Teil der Natur. Er begreift die Natur als sein Eigentum, was die Gentechnologie besonders schön zeigt. Diese Selbstvergöttlichung des Menschen, diese Allmacht ist zutiefst ungesund.

* In den Brutanlagen für Legehennen werden jährlich 45 Millionen Küken direkt nach dem Schlüpfen vergast oder zerhäckselt, weil sie als Hahn das falsche Geschlecht haben.

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