: In Religion verwandelter Narzissmus
Béla Grunberger war der große Außenseiter in der strukturalistischen Intellektuellenszene von Paris. In seiner neuen geschichtsphilosophischen Studie legt er eine gewagte psychoanalytische Deutung des Antisemitismus vor
Manche Bücher, anscheinend für die Ewigkeit geschrieben, finden rasch ihre Gegenwart. So hat der weit über neunzigjährige Béla Grunberger (mit seinem Schüler Pierre Dessuant als Co-Autor) nun den gerade wieder in Gang gekommenen Religionsdiskurs mit seinem Buch „Narzissmus, Christentum, Antisemitismus“ bereichert. 1997 in Frankreich erschienen, ist es von Max Looser kompetent ins Deutsche übersetzt worden.
Grunberger ist ein jüdischer Psychoanalytiker der zweiten Generation, der bei Ferenczi seine Lehranalyse machte und Freud noch persönlich kannte. Heute ist er selbst ein Urgestein jener Wissenschaft vom Unbewussten, die gerade ihre hundertjährige Existenz feierte. Vor den Nazis aus Ungarn geflohen, lebt er seit Jahrzehnten in Paris. Dort war er lange eine Art Gegenspieler von Lacan und galt seinerzeit als Außenseiter in der strukturalistischen Intellektuellenszene. Diese Rolle hat ihm nicht zuletzt ein provokatives Buch („La génération contéstaire“) eingetragen, das er 1968 zusammen mit seiner Frau Janine Chasseguet-Smirgel, einer ebenfalls prominenten Psychoanalytikerin, über die sozialpsychologische Verfassung der Protestbewegung veröffentlichte. Dort haben die beiden (unter einem einem bald enttarnten Pseudonym übrigens) die These vom narzisstischen Charakter des Protests vertreten, der sich im Grunde gegen die ödipale Entwicklung und damit gegen das Erwachsenwerden richte.
Besondere Aufregung hatte damals verursacht, dass – um es vereinfacht auszudrücken – das psychoanalytische Realitätsprinzip mit der Anerkennung des Vaters gleichgesetzt wurde, die Anerkennung des Vaters mit der des Gesetzes, die Gesetzesstrenge mit dem von Religion selbst befreiten Judentum und schließlich dieses säkulare Judentum mit der Psychoanalyse. Mit diesem strengen Zirkelschluss konnte der Jugendrevolte in einem einzigen Wurf bescheinigt werden, dass ihr Aufstand gegen den Staat seelisch unreif war und antisemitische Wurzeln hatte.
Einen vergleichbar weiten Bogen zieht Grunberger nun in seiner umfangreichen geschichtsphilosophischen Studie über den Zusammenhang von Narzissmus, Christentum und Antisemitismus, die an Freuds kulturtheoretische Schriften erinnert. Der antisemitische Affekt sei die Beantwortung einer narzisstischen Kränkung und stelle historisch eine immer wiederkehrende epidemische Reaktion auf Verletzungen des kollektiven Selbstwertgefühls dar, welche mit den Krisen der Gesellschaft einhergingen. Diese Hypothese wird für das Christentum an der Biografie des Religionsstifters durchgespielt: Der Mensch Jesus kennt seinen realen Vater nicht – unbewusst reagiert er auf diese Kränkung, indem er im jüdischen Gesetz zugleich das väterliche Prinzip angreift – in einer grandiosen Illusion erklärt er sich selbst zum Gott und den Juden zum Teufel. Christus verkörpert als das von allem Triebhaften gereinigte göttliche Kind eine narzisstische Fantasie der Grenzenlosigkeit, Unsterblichkeit, Gottgleichheit des Menschen. Das Christentum verwischt mit der Vorstellung vom Mensch gewordenen Gott den Abstand zum Vater; es ist in eine Liebesreligion verwandelter Narzissmus und verharrt symbolisch in einer frühen Position der Verschmelzung. Eine Triebreifung hin zur ödipalen Entwicklung von Differenz, Erkenntnis und Realität findet nicht statt, wie sie durch das Judentum repräsentiert wird: Die Mutter ersetzt den Vater, der Glaube das Gesetz und das Bekenntnis das Wissen. Im Phantasma des geldgierigen, machthungrigen und geilen Juden verfolgt der Antisemit die eigenen verpönten Triebstrebungen, die auf der analen Ebene fixiert bleiben, als Unrat und Schmutz.
Bevor man Einwände gegen dieses dickleibige Spätwerk eines verdienten Psychoanalytikers erhebt, muss man sich die eigenwillige Narzissmustheorie vergegenwärtigen, die er seiner Zunft hinterlassen hat und die aus jeder Pore dieses Buches dringt. Der Narzissmus verdankt sich nach Grunberger der pränatalen Existenz, die durch vollkommene Versorgung, ungestörte Harmonie und absolute Spannungslosigkeit einen paradiesischen Zustand konstituiert, der postnatal eine tiefe Spur der Sehnsucht nach Rückkehr in die Wonnen der ozeanischen Verschmelzung hinterlässt. Er mystifiziert den Narzissmus zu einer in der Biologie fundierten seelischen Instanz der Regression und stellt ihn dialektisch der strukturbildenden Triebentwicklung entgegen, die im ödipalen Konflikt zur progressiven Anerkennung von Realität führt. Fragwürdig an dieser Theorie ist nicht zuletzt ihr monadenhafter Charakter, der die intrauterine Ökologie, die haltende Umwelt, die lächelnde Mutter, den spiegelnden Anderen unterschlägt, die den Narzissmus begleiten. Dagegen habe ich in einer eigenen Untersuchung die intersubjektive Dimension des Narzissmus aufgezeigt, der eben keine Soloveranstaltung ist.
Die geschichtsphilosophische Anwendung dieser besonderen Narzissmustheorie aus der Sicht eines assimilierten Juden, der vom Judentum das Religiöse abzieht, provoziert aber weitere Kritik: Ist seine Diagnose von Hitler als einem Prototyp des pathologischen, auf analem Niveau fixierten Narzissmus klinisch angezeigt? Was ist mit dem vor- und außerchristlichen Antisemitismus, was mit dem neuheidnischen einer postmodernen Rechten, die mit der jüdischen auch die christliche Kultur abräumen möchte? Entspringt die säuberliche Trennung zwischen einer christlichen Religion narzisstischer Unreife und einer jüdischen Kultur ödipaler Reife nicht selber eine Zwangsvorstellung, die den Blick auf eine gemeinsame Tradition sowohl des Dogmatismus als auch kreativer zivilisatorischer Leistungen verstellt? Basiert nicht die Genealogie des Judentums ebenfalls auf einer narzisstischen Fantasie des „auserwählten Volkes“? Hassen die Christen in den Juden nicht zuletzt ihre eigenen Wurzeln? Ist der christliche Antisemitismus nicht auch Ausdruck eines „Narzissmus der geringen Differenzen“ (Freud), den wir als Quelle des ethnischen Hasses in den jugoslawischen Bruderkriegen vermuten können? All diese Fragen wirft Grunbergers Buch auf. Dennoch: Gerade in seinen gewagten Thesen wirkt es nicht nur für den Diskurs der Religionen höchst anregend.
MARTIN ALTMEYER
Der Rezensent ist Psychologe; zuletzt erschien sein Buch „Narzissmus und Objekt“ (Göttingen 2000).Béla Grunberger/Pierre Dessuant: „Narzissmus, Christentum, Antisemitismus. Eine psychoanalytische Untersuchung“, 513 Seiten, Klett-Cotta, Stuttgart 2000, 88 DM
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