: Plaste statt Kiste
DAS SCHLAGLOCHvon KERSTIN DECKER
„Musealisierung ist die säkularisierte Form der Bestattung, das heißt, die Form der würdigen Bewahrung von Lebensspuren.“ (Bazon Brock)
Mutter und Tochter, abends um neun auf einem Berliner S-Bahnhof. Sie haben erwartungsfrohe Gesichter wie Menschen, die heute noch verreisen oder mindestens auf eine Party wollen. Wir gehen jetzt zu den Leichen!, ruft das Mädchen uns zu, quer über den Bahnsteig. Wahrscheinlich müsse sie zwei Stunden anstehen, aber das sei gar nicht schlimm, um zwei Uhr machten die erst zu.
Beginnt also täglich um 2 Uhr nachts im Alten Postbahnhof die Totenruhe der Unbegrabenen? Es gibt Menschen, die halten die „Körperwelten“-Ausstellung des Anatomieprofessors Gunther von Hagens für einen illegalen Friedhof. Nachts um zwei auf einem illegalen Friedhof mitten in Berlin – gar nicht uncool, findet die Dreizehnjährige.
Man begegnet jetzt öfter seltsam hochgestimmten Mitbürgern, die großen, blauen „Körperwelten“-Kataloge unterm Arm. Es gibt auch Kalender. Jeden Monat eine neue Leiche zum Umblättern. – Warum macht der Anblick des Plaste gewordenen Todes uns augenscheinlich so tief zufrieden, wie es der Anblick des allzu Lebendigen nie schafft? Oder ist das nur die Lust des konkreten Überlebens?
Gunther von Hagens sieht aus wie Joseph Beuys. Schwarzer Hut, weißes Hemd, schwarze Lederweste. Bewunderer nennen ihn nur „den Plastinator“. Er hat die Grenze von Leben und Tod verschoben. Von allen Seiten machen sie das jetzt. Die Gentechniker schieben von vorn, von der Geburt her, von Hagens schiebt von hinten, vom Tode her. Der genoptimierte, weitgehend krankheitsgeschützte Mensch der Zukunft wird der Unsterblichkeit ein bisschen näher gerückt sein, und auch von Hagens hat schon sehr viel über die Unsterblichkeit nachgedacht: „Willst du wirklich ewig leben, musst du deinen Körper geben.“ Das ist ihm mal beim Duschen eingefallen. „Endlich unsterblich?“, so heißt das erste Von-Hagens-Fanbuch, ein Porträt des Erlebnisanatomen auf 399 Seiten. Und Filme über ihn tragen Titel wie „Mein Leben nach dem Tod“.
Natürlich ist das mit dem Leben irgendwie relativ. Auch missfällt den Kirchen diese Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten. Ist das ewige Leben etwa keine entschieden innerkirchliche Angelegenheit? Wenn jetzt schon die Anatomen anfangen, sich ausgerechnet für die Unsterblichkeit zu interessieren, muss irgendetwas sehr falsch gelaufen sein. Bis vor kurzem schnitten die noch ihre Leichen in der Dämmerung vom Galgen ab, und nun? – Endlich wieder ein richtiger Kulturkampf, mitten in Berlin. Kulturkämpfe sind Kämpfe, in denen es mindestens um Leben und Tod geht, symbolisch gesehen. Wer hätte gedacht, dass wir, Kinder sämtlicher Epochen, die mit „Post-“ anfangen, so was noch mal erleben? Eineinhalb Wochen sind die „Körperwelten“ in Berlin, und schon haben wir den eisernen Vorsatz der Kirchen, ein Requiem für von Hagens’ Plastik-Tote zu lesen sowie die entschlossene Gegenmaßnahme des „Verbandes des Körperspender“: die ultimative Anti-Requiem-Demo.
Dabei hatte „der Plastinator“ so was schon geahnt und nach Art der Wissenschaftler alles vorher erklärt. Seine Ausstellung sei ganz legal, denn es gäbe genau „drei Hauptformen der menschlichen Leiche“, begann er mit gewinnendem Lächeln vor vierzehn Tagen im Anatomischen Museum der Charité. Da, wo die entschiedensten menschlichen Seltsamkeiten die Zeiten in Formalin betrauern. Von Hagens findet ihren Anblick irgendwie deprimierend. Formalin hat so was Gleichmacherisches, alle sehen so grau aus und – tot? Von Hagens’ Leichen wirken da viel bunter und lebendiger. Also Verwesungsleiche, Feuchtleiche und die Trockenleiche. Alle drei Hauptformen zerfallen wieder in überraschend viele Unterformen, wobei der Trauerleichnam die absolute Hauptform der entsprechenden Unterform vorstelle. Von Hagens’ eigene Leichen nun aber seien mitnichten Trauerleichen, sondern würden vielmehr die zweite Untergruppe der Hauptgruppe Trockenleiche bilden: künstliche Trockenleichen. Ergo brauchen sie nicht beerdigt zu werden, schloss von Hagens triumphal mit dem ganzen Selbstgefühl des Wissenschaftlers. Aber die Kirche zweifelt noch immer.
So kommen wir nicht weiter. Ein ganz neuer Ansatz muss her. Ist es Zufall, dass manche Hauptkritiker der „Körperwelten“ die Ausstellung gar nicht gesehen haben? Ernst Benda zum Beispiel, der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, hält die Zurschaustellung des toten Schachspielers für eine „grob ungehörige Handlung“. Aber da haben wir’s doch! Schachspieler, Läufer, Lassowerfer, Fechter, dazu jetzt noch – neu in Berlin – Werfer und Schwimmerin. Alles Berufstätige. Sportler zumeist. Darf man Berufstätige einfach so beerdigen?
Außerdem, die stehen. Es sind Wiederauferstandene, wörtlich. Stehen ist ein Anzeichen von Vitalität. Genau wie es der Dachdeckermeister aus Weilerswist sagte, der in Köln nur ein Dach decken sollte, die „Körperwelten“ sah und sich sofort zur Körperspende meldete: „Lieber hier rumstehen als in der Kiste vergammeln.“ Sein Kollege ergänzte: „Und meine Familie könnte mich besuchen.“ Die Dachdecker fühlen sich demnach schon jetzt viel untoter. Und darum geht es von Hagens doch. Nehmt dem Tod seine pessimistischen Seiten! Der Tod riecht schlecht und ist ziemlich destruktiv. Bei von Hagens riecht der Tod gar nicht mehr und ist konstruktiv. Man darf meist alle Muskeln behalten. Muskeln symbolisieren allerhöchste Vitalität.
Das tote Pferd ganz hinten in der Ausstellung hat die größten Muskeln. Seltsam, keiner fragt sich: Wer ist das Pferd? Aber den Gedanken, wer wohl der Reiter ist mit dem Hirn in der Hand, wird man nicht ganz los. Hannibal Lecter? Vielleicht war es auch von Hagens’ bester Freund. Jawohl, seinen besten Freund hat der große Plastinator auch schon plastiniert. Nichts liegt näher, denn Plastinate halten die nächsten 100.000 Jahre, ja, sie überstehen auch Weltuntergänge. Erst das definiert die Unsterblichkeit.
Als die schöne, junge Frau des Plastinators erklärte, warum die „Körperwelten“ erst jetzt in Berlin sind, musste man beim Zuhören immerzu überlegen, was der Plastinator im Falle ihres frühzeitigen Ablebens wohl aus ihr machen wird. Kugelstoßerin geht nicht, viel zu zart. Außerdem hat sich ihr Mann als nächstes ein richtiges Streichquartett vorgenommen. Der wahrscheinlichere Fall aber ist, dass nicht von Hagens seine schöne Frau, sondern sie den Plastinator in lauter 3,5 Millimeter dicke Scheiben sägen muss. Mit Hut. Den setzt er nämlich nie ab. Von Hagens formuliert seine postmortale Zukunft so: „Ich werde in Scheiben weiter lehrend tätig sein.“ Lehrend tätig sein. Da haben wir’s wieder. Absoluter Aktivwortschatz. Wir können nicht anders. Die Vita activa hat endgültig triumphiert über die Vita contemplativa. Totsein passt einfach nicht zu uns. Viel zu kontemplativ. Von Hagens hat den Geist des Todes aus dem der Epoche neu erfunden. Keiner entgeht seiner Epoche. Er störe die Totenruhe, sagen die Kritiker. Als ob es etwas gäbe, wovor wir mehr Angst hätten. Tot sein. Und dann noch in Ruhe.
Fotohinweis:Kerstin Decker ist Publizistin und seit 1999 Schlagloch-Autorin.
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