: Die verschlafene Revolution
Schröder kann sich seinen „Nationalen Ethikrat“ schenken – denn das Gremium kommt selbst für die dringlichsten Erfordernisse der biotechnologischen Revolution zu spät
Bundeskanzler Schröder hat diesmal einen schlechten Riecher. Indem er die Bioethik als Chefsache ins Kanzleramt zieht, wird er sich viel Ärger einhandeln – und kaum Erfolg. Die einen werden dem Chef, der selber die Mitglieder des „Nationalen Ethikrates“ benennen will, die Einrichtung eines Problemverschiebebahnhofs vorwerfen. Und bald gute Gründe dafür finden. Die anderen werden dem Standortverteidiger nachsagen, er wolle unterm wissenschaftlichen Mäntelchen der drängenden biotechnischen Industrie die Wege bahnen. Und Beweise vorbringen. Schließlich wird der Ethikrat selbst dem Kanzler und seiner Regierung keine politische Entlastung bringen. Und auf die kommt es dem Pragmatiker Schröder vor allem an.
Sollten die Ethikexperten Muskeln zeigen und eindeutigen Rat geben, werden sie sich den Zorn aller Seiten zuziehen. Dieser wird dann auf den Chef direkt zulaufen. Verkeilt sich der Rat dagegen in den Problemen, so wird dies auch für Schröder unerfreulich. Ohnehin werden sich seine Minister zunehmend zerstreiten müssen: Das ist bisher noch in jedem Land so gewesen, wo derartige Räte eingerichtet wurden. Schröder täuscht sich auch, wenn er einerseits eine gewichtige Beraterschaft heranziehen, andererseits nur Unverbindliches von ihr akzeptieren will. Es wird einfach niemand hingehen. Und da der Einfall des Kanzlers ohnehin zu spät kommt, sieht das ganze zudem nach einer Panikreaktion aus.
Als die Regierung Schröder/Fischer ins Amt kam, hatte keiner ihrer Minister eine Vorstellung von den gesellschaftspolitischen und sozialökonomischen Problemen, die ihnen die Biotechnologie vor die Tür stellt. Als die Entschlüssung des Genoms im vergangenen Jahr mit großem Trara angekündigt wurde, musste die tapfere Gesundheitsministerin sich erst mal Grundwissen aneignen. Dabei hätte man das, was jetzt über ihr Ressort hereinbricht, schon Mitte der Neunzigerjahre hinreichend genau als politisches Problem definieren können. Die Ministerin aber lernte vor allem das Internet lieben. Dass es mit dem biotechnologischen Sturmfortschritt auch fundamental um Bildungsfragen und Wissenskompetenz geht, scheint im zuständigen Ministerium bis heute kaum wahrgenommen zu werden. Auch dem Arbeitsminister ist bisher nicht klar, dass die Perspektive der industriellen Planung für die life sciences bereits heute im Rahmen der Rentenreform bedacht werden müssten.
In den nächsten zwei, drei Jahren steht eine breite Debatte über die Notwendigkeiten einer Revolution dessen an, was man heute naiv „Gesundheitspolitik“ nennt – über fast alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens. Wer soll die umfangreichen Gesundheitsprognosen bezahlen, auf die die Konsumenten des Gesundheitssystems einerseits ein Anrecht haben, zu denen sie andererseits aber gezwungen werden müssen? Anders gefragt: Wem muss eine umfassende Prognose über sein biologisches Kapital zugemutet werden, wenn diese Prognose einen Zwang zur Selbstkontrolle mit sich führt? Darauf müssen schon die Kranken- und die Lebensversicherungen bestehen.
Wie kann das unvermeidliche System einer Präventivmedizin eingerichtet werden, die ja die Konsequenz aus der unvermeidlichen Prädiktivmedizin sein muss? Wenn für jedes Individuum eine plausible Prognose über seine biologischen Chancen gestellt werden kann, hat die ahnungslose Vorstellung vom „Gesundheitsmarkt“ nämlich ausgespielt. Wenn in spätestens 30 Jahren, wie der französische Genetiker Daniel Cohen vorhersagt, mehr als 80 Prozent aller medizinischen Handlungen aus Prävention bestehen werden – und sich damit auch das Verhältnis zwischen dem Arzt-Experten und dem Patienten-Konsumenten ändert –, wird es einen Markt mit freier Wahlmöglichkeit nur noch begrenzt geben können.
Auf welche Weise muss das System der Kranken- und der Rentenversicherungen umgebaut werden, wenn man die biologischen Chancen der Versicherten ziemlich genau bewerten kann – und wenn die Verpflichtung zum präventiven Verhalten für alle eine notwendige Norm ist? Wie müssen die neuen Solidaritäten aussehen, die angesichts der nun bekannten schicksalhaften Ungleichheit errichtet werden müssen? Die alten Sicherheiten waren auf gemeinsame Unsicherheit über die Zukunft gebaut. Der soziale Zweck der Biotechnologie aber muss gerade die Verminderung und Vermeidung von Unfall und Zufall in der biologischen Karriere der Individuen sein.
All das hätte hinreichend formuliert werden können, als die rot-grüne Koalition ins Amt kam. Das hätte vor allem dem grünen Bestandteil politisch bewusst sein müssen, wo die immer noch industriegesellschaftlich-produktivistischen Sozialdemokraten unter ihrem Autokanzler lernunfähig sind. Aber die Grünen versagten vor den realen Bedingungen der biologischen Zukunft völlig – obwohl in den Wissenschaften bereits seit Beginn der Neunzigerjahre diskutiert wurde. Aber diese Diskussion war nicht politisch organisiert. Die politischen Institutionen wollten nichts darüber wissen.
Die Parteien hätten vieles voraussehen können, hätten sie nur die Finanzmärkte und die Fusionswellen in der biotechnologischen Industrie beobachtet und gedeutet. Schon Anfang der Neunzigerjahre hatte es dort eine erste Konjunktur gegeben. Sie verebbte nur, weil sich die Gewinnerwartungen nicht schnell genug erfüllten – und weil der verrückte Boom der Telekommunikationsindustrie Kapital an sich zog. Spätestens Mitte des vergangenen Jahrzehnts hätten die Politiker die Signale endgültig lesen müssen. Etwa 1996 wurde nämlich klar, dass das Internationale Humangenom-Projekt schon im Jahr 2000 an sein erstes Ziel kommen würde. Daraus waren ja nicht nur erste biologisch-medizinische Folgen der Genomentschlüsselung ablesbar, sondern auch der gewaltige Kapitaleinsatz und das Tempo des Fortschritts.
Jetzt kann sich der Kanzler seinen Nationalen Ethikrat schenken: Selbst für die dringlichsten Erfordernisse der Gesetzgebung und der staatlichen Steuerung kommt er zu spät. Geboten wäre jetzt, was schon vor fünf Jahren geboten war: die Einrichtung eines politischen Planungsinstruments unter Beteiligung aller einschlägigen Ressorts. Das sind ärgerlicherweise viele: nicht nur die Ministerien für Justiz, Gesundheit und Umwelt, sondern ebenso die Kollegen für Landwirtschaft (und Ernährung), für Bildung und Forschung, für Wirtschaft, für Soziales und für das Innere.
Ob sie wollen oder nicht: In Kürze wird die staatliche Verwaltung in die biotechnologische Revolution hineingezogen werden. Und das nicht nur, weil dadurch zahlreiche Lebensverhältnisse umgeformt werden. Sondern vor allem, weil dies die herrschende Großtechnologie sein wird. Die Biotechnologie muss den nun beginnenden wirtschaftlichen Großzyklus tragen. Leider hält der Kanzler, ein Meister des muddling through, wenig von sozialen Revolutionen. Die Investoren müssen es ihm erst beibringen. CLAUS KOCH
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