piwik no script img

Das Viertel kippt

Die Rote Flora warnt vor der Verfestigung der offenen Koffeinszene in der Schanze. Verantwortlich dafür: der Hamburger Senat  ■ Von Elke Spanner

Die Dealer fahren unverfroren mit großen Lieferwagen vor. Kis-tenweise wird der Stoff in abgedunkelte Lagerräume verbracht, beste Ware: Lavazza, Segafredo, Sandino Dröhnung. Keine heimliche Kontaktaufnahme an der Ecke, keine Geldübergabe unterm Ladentisch: Die Droge wird offen über den Tresen hinweg verkauft. Allein Bares zählt. Die offene Drogenszene droht das Gesicht des Schanzenviertels zu verändern. Davor haben gestern AktivistInnen des Stadtteilzentrums „Rote Flora“ gewarnt: „Wenn nicht sofort gehandelt wird, droht unser schönes multikulturelles Viertel zu kippen.“ Sie gründeten die „Arbeitsgemeinschaft gegen die Verfestigung der offenen Koffeinszene“.

Verantwortlich für die erschre-ckende Zahl der NeueinsteigerInnen ist die verfehlte Sozial- und Bildungspolitik des Senates. Abgebrochene Chemiestudenten, promovierte Germanistinnen und verdörrte JuristInnen: Alle werden Web-Designer. Seit die ersten vor wenigen Jahren das Hauptbahnhof-nahe Schanzenviertel für sich entdeckten, ist die Sogwirkung ungebremst. Die Einrichtung zahlreicher Koffein-Konsumräume tat dann ein Übriges.

Dabei haben sich die Konsumgewohnheiten in den vergangenen Jahren erheblich verändert. Trank man das Zeug damals zumindest noch gefiltert, wird es mittlerweile „gebast“, das heißt mit heißer Milch aufgeschäumt. „Das Suchtpotential ist größer als bei gefiltertem Koffeein“, warnt die Drogenbeauftragte des Senates, Christina Baumeister: „Schreckten da zumindest junge Leute vor dem bitteren Geschmack zurück, ist die Hemmschwelle bei mit Milchschaum und Zucker gepanschtem Stoff abgesenkt.“ Zudem habe der Drogenkonsum identitätsstiftende Wirkung. KlientInnen berichten immer wieder, im Kreise der Szene fühlten sie sich „so unheimlich kreativ“.

Zum Treffpunkt haben sich die zahlreichen Konsumräume im Viertel herauskristallisiert. Gerade bei schönem Wetter bilden sich zu den Öffnungszeiten große Menschentrauben davor. Geschäftsleute der umliegenden Läden klagen über Einnahmeverluste: „Niemand kauft mehr Röhrenjeans“, sagt Heino Heiners, Geschäftsführer der Boutique „Hübsch und billig“: „Junge Leute trauen sich nicht mehr zu mir rein, weil sie sich dabei immer von einer Menschenmenge angaffen lassen müssen.“

Da die Konsumräume zumeist nur über wenige Stehtische verfügen, ist auf den Straßen des Schanzenviertels zu beobachten, dass sich Leute sogar in Hauseingängen ihren Milchkaffee reindrücken. Später bleiben benutzte Kaffeetassen dort stehen, direkt zugänglich für die Kinder. Überall klingeln Handys – und die Polizei greift nicht ein. Dabei sind die Langzeitschäden noch nicht abzusehen. Bei Kindern, die dem täglich ausgesetzt sind, sollen bereits Fälle von Klamottus Markulus aufgetreten sein.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen