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Kurzer Prozess für SS-Führer

aus Paris DOROTHEA HAHN

Alois Brunner hat ein ruhiges Leben gehabt: als SS-Obersturmführer, der die Deportation von mehr als 120.000 Juden aus mehreren europäischen Städten organisierte; als Mitarbeiter von Reinhard Gehlen, der im US-Auftrag einen neuen westdeutschen Geheimdienst aufbaute; und als Schützling des verstorbenen syrischen Staatschefs Hafis al-Assad, dem er einst zur Macht und zum Aufbau seines Polizeiapparates verhalf. Nie hat ihn ein Richter persönlich behelligt.

Daran wird sich auch heute nichts ändern, wenn 56 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ein Pariser Gericht über Brunners „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ urteilen wird. Denn der Angeklagte ist abwesend. Es ist nicht einmal sicher, ob er noch lebt. In Syrien, wo Brunner 1954 unter dem Namen „Dr. Georg Fischer“ untertauchte, hat sich das Regime seither ununterbrochen vor ihn gestellt, gegen alle Beweise seinen Aufenthalt im Land geleugnet und gegenüber den wenigen Politikern und Richtern, die darum baten, jegliche Zusammenarbeit abgelehnt. So gibt es nur Mutmaßungen, nach denen es einmal heißt, Brunner, der heute 88 wäre, sei tot. Ein anderes Mal, er lebe, und zwar in dem Luxushotel „Méridien“ in Damaskus. Dafür spricht nicht zuletzt, dass Syrien großes Interesse daran gehabt hätte, Brunners Tod – natürlich außerhalb des Landes – bekannt zu machen.

In Abwesenheit des Angeklagten wird das voraussichtlich letzte französische Verfahren gegen einen NS-Verbrecher schnell gehen. Die Nebenkläger und die Richter werden im Gerichtssaal unter sich sein. Ein einziger Tag nur ist für die Verhandlung angesetzt. Die Beweislage ist eindeutig, ein Schuldspruch sicher. Ebenso steht allerdings auch fest, dass Brunner seine Strafe nie verbüßen wird. Dennoch ist der Anwalt Serge Klarsfeld, dessen jahrzehntelanges Engagement die Sache ins Rollen gebracht hat, erleichtert. „Es ist der nötige Schlussakt“, sagt er, „obwohl ich es natürlich vorgezogen hätte, wenn Alois Brunner persönlich anwesend wäre.“

Von den vielen Verbrechen Brunners hat die französische Justiz eines herausgegriffen: Die Deportation von 250 Säuglingen und Kleinkindern im Juli 1944 nach Auschwitz. Sie wurden auf Befehl des SS-Obersturmführer und Leiters des Durchgangslagers Drancy aus Kinderheimen im Großraum Paris abgeholt, in denen sie nach der Deportation ihrer Eltern Unterschlupf gefunden hatten. Mit dem Verbrechen an ihnen hat sich die Justiz nie zuvor befasst. Auch nicht die beiden französischen Militärgerichte, die Brunner im Jahr 1954 – ebenfalls in Abwesenheit – zum Tode verurteilten.

In den 50er-Jahren gab es den nicht verjährbaren Straftatbestand „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ in Frankreich noch gar nicht. Seither sind drei Männer deswegen verurteilt worden: der Deutsche Klaus Barbie, Ex-Gestapochef von Lyon, der jahrelang in Bolivien untergetaucht war. Der Franzose Paul Touvier, einstiges Mitglied der Miliz, des französischen Pendants zur Gestapo, der jahrzehntelang von Mitgliedern des katholischen Klerus in Frankreich versteckt worden war. Und der Franzose Maurice Papon, Ex-Generalsekretär und „Judenbeauftragter“ der Präfektur der Gironde, der nach Kriegsende zu einer politischen Karriere abhob, die ihn am Ende an die Spitze des Haushaltsministeriums brachte.

Der 1913 in Österreich geborene Alois Brunner, der schon 1931 der NSDAP beitrat und der seine Karriere seit der Begegnung mit Adolf Eichmann, 1938 in Wien, rund um den Massenmord an den Juden konstruierte, ist wegen der schwersten Verbrechen angeklagt. Im Gegensatz zu Eichmann war Brunner kein „Schreibtischtäter. Der fanatische Antisemit legt selbst Hand an bei der Auslöschung der jüdischen Gemeinden in Berlin, Wien und Thessaloniki. Über das Lager Drancy wurden etwa 24.000 Menschen in die Gaskammern von Auschwitz und Bergen-Belsen geschickt. Klarsfeld, dessen Vater von Brunners Männern deportiert wurde, nennt ihn einen „Barbie in zehnfacher Potenz“. Eichmann bezeichnete ihn als seinen „besten Mann“.

Brunner genoß zugleich die einflussreichste und effizienteste Unterstützung nach Kriegsende. Bis 1953 – als er unter verschiedenen Identitäten in Westdeutschland lebte – halfen ihm alte Kameraden wie der spätere BND-Chef Reinhard Gehlen, der als Führungsmitglied im Reichssicherheitshauptamt gearbeitet hatte, und der spätere CDU-Bundestagsabgeordnete Rudolf Vogel, der als Mitglied von Brunners Propagandastaffel in Thessaloniki und als SS-Kamerad mit ihm in Paris gewesen war. In Damaskus, wo Brunner als „Fischer“ ankam, profitierte er von einem komplett verschlossenen, repressiven Regime, in dem er seinen Antisemitismus offen zeigen konnte. Noch 1987 erklärte er in einem Interview mit der US-Zeitung Chicago Sunday Times: „Die Juden haben den Tod verdient, weil sie Kinder des Teufels und menschlicher Abfall waren. Ich würde es wieder tun.“

Den Angehörigen der Opfer gelang es schon in den 70er-Jahren, Brunners Spur zu finden. Beate Klarsfeld, die deutschstämmige Gattin des Pariser Anwalts, führte 1982 ein Telefonat mit ihm, um nachzuweisen, dass er in Damaskus wohnte. Sie warnte ihn am Telefon – im angeblichen Auftrag eines Chefs – davor, zu einer ärztlichen Behandlung in die Schweiz zu reisen, wo es einen Haftbefehl gegen ihn gäbe. Brunner dankte und versprach, für ihren Chef „zu beten“.

In seiner Zeit in Damaskus erhielt Brunner auch zwei Briefbomben. Eine zerstörte sein linkes Auge. Die andere riss ihm mehrere Finger von der rechten Hand. Fotos der Illustrierten Bunte aus dem Jahr 1985 zeigen ihn mit verstümmelter Hand und schwarzer Brille.

Dennoch gelang es keinem einzigen Spitzenpolitiker, je eine offizielle Auskunft über Brunners Verbleib zu bekommen. Und die verschiedenen Anträge auf Auslieferung – unter anderem kamen sie aus Österreich, aus der DDR, aus Frankreich und aus der Bundesrepublik – blieben unbeantwortet. Frankreichs Spitze sprach die Brunner-Affäre zumindest an. Aber der frühere Außenminister Roland Dumas, der Anfang der 90er-Jahre auf einer Nahostreise das heikle Thema ankündigte, wurde prompt von Damaskus ausgeladen. Und Staatspräsident Jacques Chirac, der 1996 nach Damaskus reiste und 1998 den syrischen Diktator in Paris empfing, blitzte mit seinen Bitten um Rechtshilfe ab. Deutschland, in dessen Namen Brunner seine Verbrechen beging, zeigte sich gegenüber Syrien noch zurückhaltender.

Seit Anfang der 90er-Jahre verschlechterte sich die Lage derjenigen, die einen Gerichtsprozess gegen Brunner wollten, weiter. „Mit dem Golfkrieg wurde Assad ein Freund des Westens“, sagt Beate Klarsfeld, „wir gaben unsere Hoffnung auf.“ Dass es, den politischen Willen vorausgesetzt, Möglichkeiten gegeben hätte, um des Angeklagten habhaft zu werden – notfalls auch gegen den syrischen Widerstand –, steht für Beate Klarsfeld fest. „Carlos, den Terroristen, haben sie herausgeholt“, sagt sie, „Brunner nicht.“

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