: Die Fünfte ist sich wieder grün
Im Süden von Hamburg tragen Fünftklässler alle die gleichen grünen Pullover. Jetzt wird weniger über Aldi-Klamotten gelästert und wieder mehr miteinander geredet und gespielt. Hat bald jede Klasse der Haupt- und Realschule Sinstorf ihre eigene Farbe?
aus Hamburg SANDRA WILSDORF
Die anderen nennen sie „Frösche“ oder „die grüne Armee“. Denn sie tragen dunkelgrüne Sweatshirts. Jeden Tag. Die ganze Klasse. Am Anfang hat der ein oder andere es noch mal versucht, hat einfach trotzdem sein Nike-Shirt angezogen. Doch die 5 b hält zusammen: „Hast dich wohl vergriffen“, hieß es dann. Inzwischen traut sich das keiner mehr.
Die Zehn- bis Zwölfjährigen von der Haupt- und Realschule Sinstorf im südlichen Hamburg haben sich eine Uniform gegeben. Ländlich ist es hier, viel Wald, weite Wiesen. Wilhelmsburg ist nicht weit weg, wo im vorigen Frühjahr ein Kampfhund einen kleinen Jungen totgebissen hat, aber auch die Villa vom Vizechef der Bundes-CDU, Volker Rühe, ist in der Nähe.
Wie fast überall zählt hier nur, wer sich Marken leisten kann. Nike, Fila, Adidas, Fishbone: Früher war cool, wer sie hatte, wer die Uniform der Reichen tragen konnte. Heute ist ein Außenseiter, wer sie nicht hat. Deshalb haben auch hier die Erwachsenen in die Kleiderordnung ihrer Kinder eingegriffen – nicht mit dem Verbot von Springerstiefeln und Bomberjacken, sondern mit dem Gebot der Gleichheit.
Inzwischen tragen die Schüler freiwillig und begeistert die grünen Sweatshirts mit dem kleinen runden Schulenblem. Am Anfang waren sie von der Idee genervt. „Frau Brose und die Eltern haben das einfach entschieden“, erzählt Annika. Gleich am ersten Elternabend hat die Lehrerin den Eltern vorgeschlagen, was ihrer Meinung nach der Ausweg aus dem Markenhysterie ist, der elterliche Portemonnaies und kindliche Psychen gleichermaßen belastet: „Ich hatte Glück, die waren alle sofort begeistert“, sagt die Pädagogin, die seit 27 Jahren in dem Job ist und der klar war, „wenn ich eine neue fünfte Klasse bekomme, muss alles anders werden“.
Anders, als sie es bis dahin täglich erlebt hat, und anders, als die Kinder es in den Grundschulen erfahren haben: „Ich wurde immer ausgeschlossen und gehänselt“, sagt Jan-Erik, „meine Mutter hat nicht so viel Geld“, erklärt er, warum er keine Pullover im Schrank hat, die 100 Mark und mehr gekostet haben. „Mir ist das auch egal, Hauptsache, ich habe etwas anzuziehen, aber den anderen nicht. Einer hat mich mal zusammengeschlagen“, erzählt er. Deshalb ist er froh, dass jetzt alle die gleichen grünen Pullover tragen: „Erst wollte ich ihn nicht anziehen, ich mag meine alten Pullis, aber die anderen spielen jetzt sogar manchmal mit mir.“ Deshalb habe seine Mutter die Uniformen auch für seine drei Brüder bestellt, die ebenfalls auf diese Schule gehen.
Die, die Jan-Erik zum Außenseiter gemacht haben, erklären das so: „Der hatte nie die richtigen Pullis an“, sagt Sumir. Er war ein „Aldi-Kind“. „Jungs tragen nun mal Marken.“ Aber Jan-Erik, der habe gemusterte Hosen mit Flicken getragen, „Mädchenhosen“, höhnt einer. Dass man mit so einem nicht spielt, ist irgendwie selbstverständlich. Deshalb lautet die Antwort auf die Frage nach dem Warum auch immer nur: „Wir spielen nur mit denen, die Marken tragen.“
Dafür, dass Sohn und Tochter gesellschaftsfähig sind, haben die Eltern zu sorgen: „So ein Adidas-Anzug kostet schon 100 bis 150 Mark, das bezahlen unsere Eltern“, sagt Robin. Deshalb fand er das am Anfang „richtig Scheiße“, dass alle die gleichen Sweatshirts tragen sollen. „Aldi-Klamotten“, sagt einer. Aber jetzt ist das okay. „In der Klasse ist es irgendwie besser“, sagt Sumir.
Das finden auch die Mädchen: „Wir sind eine richtig gute Klassengemeinschaft“, sagt Annika. Vorher sei das schlimm gewesen, „Wer sich die Marken nicht leisten konnte, war außen vor.“ Sie hat deshalb ihr ganzes Taschengeld gespart, um sich immer neue Sachen kaufen zu können. Und mit ihnen die Anerkennung. Jetzt hat sie ein bisschen Geld über.
Manchmal trägt sie den Schulpullover auch in der Freizeit, „aber dann wird der so schnell schmutzig, außerdem will ich ja meine anderen Klamotten auch noch tragen.“ Dann gibt es sie doch wieder, die Gruppen. „Aber das ist nicht mehr so extrem“, sagt Annika.
Und noch ein gutes hat der Pullover: „Man muss morgens nicht so lange vorm Schrank stehen“, sagt Maren. Den grünen Pullover, irgendeine Hose, Schuhe, fertig. Am Anfang habe sie die Idee ja genervt, „aber jetzt ist es toll, es ist viel ruhiger bei uns geworden.“ Und Özlem findet: „Das sollten alle Klassen machen.“ Die anderen Schüler der Schule tragen zwar auch immer mehr die zumindest obenrum gleich machenden Shirts, aber die 5 b ist bisher die Einzige, die sich dazu verpflichtet hat. Im Sommer soll die Sinstorf-Kollektion erweitert werden. „Röcke wären toll“, sagt Janina. Und die Siebtklässler sollen schwarze Shirts bekommen.
Lehrerin Karin Brose erinnert sich noch an den Anfang: „Einige haben sich gewehrt, die wollten sich ja gerade über ihre Klamotten profilieren.“ Das ganze Thema falle jetzt weg und auch die Ausgrenzung wegen der Kleidung. „Jetzt arbeiten wir an der Haltung dazu, an den Fragen, was Klamotten ausmachen, warum sie Identität schaffen.“ Für die Pädagogin ist das klar: Eltern seien immer weniger verfügbar, böten immer weniger Halt. Und wo es keine Orientierung gebe, suchten Kinder sie sich selber. Im Zweifel in Äußerlichkeiten.
Brose weiß aber auch, dass ihre Aktion „nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist“. Wenn es nach ihr ginge, würde man so eine Uniform in der ersten Klasse einführen. „Aber das wird sich nie durchsetzen. Wir sind ja so furchtbar liberal in Hamburg.“ Viele Kollegen seien gegen das optische Gleichmachen, sprechen von Unfreiheit und von einer Maßnahme gegen die Individualität. „Ich finde, es ist genau umgekehrt“, sagt Karin Brose.
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