: Zäsuren setzen ist immer heikel
■ Filme der sowjetischen Avantgarde aus drei Jahrzehnten: Ein Interview mit Thomas Tode
Begleitend zur Ausstellung Mit voller Kraft – Russische Avantgarde 1910 – 1934 zeigt das Metropolis Kino vom kommenden Samstag an bis zum Juni ein 16-teiliges Programm mit Filmen der sowjetischen Avantgarde. Während die Ausstellung mit dem Jahr 1934 endet, im Jahr des I. Allunionskongress der Sowjetschriftsteller, auf dem – nicht folgenlos auch für die anderen Künste – der Sozialistische Realismus propagiert wurde, reicht das Filmprogramm bis in die späten 30er Jahre. Thomas Tode hat die Reihe zusammengestellt.
taz hamburg: Die Filme der Reihe stammen nicht nur aus dem Zeitraum, den die Ausstellung behandelt. Hast du versucht, stärker den Einfluss des Stalinismus auf Kunst, in diesem Fall auf die Filmkunst, deutlich zu machen?
Thomas Tode: Ja, das ist einer der Schwerpunkte der Retrospektive. Ich habe kaum Filme der russischen Avantgarde ausgesucht, sondern nur sowjetische, aus der Zeit nach der Oktoberrevolution. Auch aus dem Interesse heraus, dass die Frage „Wie gehen Künstler mit totalitären Regimen um?“ bei uns immer wieder diskutiert wird, da sie auch in der deutschen Geschichte eine große Rolle spielt. Die Ausstellung hat ja mit dem Jahr 1934 eine Zäsur gesetzt. Aber so etwas ist immer heikel. Manche Filmhis-toriker unterscheiden zwischen einem „Kino des sozialen Auftrags“ der 20er Jahre und einem „korrumpierten Parteikino“ der 30er. Ich habe dagegen mit der Auswahl versucht zu zeigen, dass es Filme gibt, die sich in dieses Schema nicht fügen. Bei Dziga Vertov hab ich einen frühen Film ausgewählt, Filmauge von 1924, und einen späten, Wiegenlied von 1937. Ebenso bei Alexander Dowshenko. Da kann man die Veränderung auch mal an einzelnen Regisseuren verfolgen.
Lässt sich denn überhaupt an Filmen die Entwicklung zur stalinistischen Kunstdoktrin ablesen? Mein Eindruck ist, dass den Filmern viel weniger vorgeschrieben wurde als etwa den Schriftstellern oder den Bildenden Künstlern.
Man kann schon Entwicklungen sehen. Im Programm sind ein paar Filme aus den 30ern, die mit bitterem Ernst von Streikbrechern, Spionen oder japanischer Infiltration handeln. Dazu gehört zum Beispiel Pudowkins Der Deserteur, in dem es um den Hamburger Werftarbeiterstreik geht, oder Dowshenkos Aerograd. In den 20er Jahren dagegen wurden solche Themen, etwa von Lew Kuleschow, noch in überdrehten Komödien abgehandelt, wie in Der Todesstrahl oder in Die ungewöhnlichen Abenteuer des Mr. West im Lande der Bolschewiki.
Ist diese Veränderung nicht eher darauf zurückzuführen, dass die Filmemacher selbst angesichts des Faschismus solche Sachen ernster genommen haben?
Sicher, die Utopie von der Weltrevolution war verabschiedet, das haben auch viele Filmemacher so gesehen, die Losung hieß jetzt „Sozialismus in einem Land“, der Schwerpunkt lag auf der Überzeugungsarbeit im eigenen Land. Es war zwar in den 20er Jahren leichter, einen kritischen Film zu machen, aber es gibt auch in den 30er-Jahren immer noch einzelne Irrläufer. In der Reihe läuft zum Beispiel Das Glück von Alexander Medwedkin, eine im Grunde für das Jahr 1934 unzeitgemäße Satire über einen unangepassten Kolchosebauern. Der Film wurde entsprechend von offizieller Stelle sehr stark kritisiert.
Äußerte sich das bloß in Kritik, oder gab es irgendwelche Auflagen?
Sicher, man darf nicht vergessen, dass auch viele Filme verboten worden sind. Trotzdem hatten die Filmemacher bis zur Fertigstellung des Films sehr große Freiheiten. Das sowjetische Kino ist ja das Kino der Regisseure, des Primats der Montage. Es gab da keine Produzenten, die Einfluss genommen hätten. Die Formsprache des sowjetischen Films war dadurch – im Vergleich zum damaligen deutschen oder zum Hollywood-Film etwa – erstaunlich avanciert. Das macht bis heute seinen Charme aus. Und die staatlichen Stellen haben meist erst am fertigen Ergebnis gesehen, was dabei herausgekommen war.
Und welcher Film wurde zum Beispiel verboten?
Wiegenlied von Dziga Vertov hatte beispielsweise Schwierigkeiten, wurde nach fünf Tagen aus den Kinos zurückgezogen. Und das, obwohl er jede Menge Frauen in ihrer Verehrung für Stalin zeigt. Die Wissenschaftler sind sich bis heute uneins, ob das ein stalinistischer Film ist oder nicht. Er hat sehr viele Subtexte, „unkontrollierbare Kontexte“ nannte das die sowjetische Zensur damals. Es gibt Leute – ich bin nicht dieser Meinung –, die sagen, er führe dort das Modell „Frau verehrt Stalin“ durch seine unendliche Vervielfältigung ad absurdum.
Welchen Einfluss hatten denn die Filme der sowjetischen Avantgarde tatsächlich zu ihrer Zeit?
Die Filme, die wir heute damit verbinden, wurden damals gar nicht so viel gesehen. Sie galten vielen als elitär, auch der Filmadministration. Es gab zwar ein städtisches Publikum, das das mitgetragen hat. Doch wenn man sich den Kinoplan von 1924 in Leningrad ansieht: Da findet sich, sieben Jahre nach der Revolution, kein einziger sowjetischer Film im Programm, nur deutsche, amerikanische und französische Produktionen. Das relativiert natürlich den Einfluss der Avantgarde, der zu hoch eingeschätzt wurde und wird – damals bisweilen von den staatlichen Stellen und heute von vielen Filmhistorikern. Interview: Christiane Müller-Lobeck
Die Reihe startet diese Woche mit Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin: Sa, 18 + 20.30 Uhr; weitere Filme immer donnerstags (mit Einführung), wiederholt sonntags, alle mit Live-Vertonungen
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