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Im Auftrag des Heers

Sozialpsychologische Versuche in den USA waren Vorbild für den deutschen Wissenschaftsthriller „Das Experiment“. Die politischen Hintergründe und zwielichtigen Methoden solcher Forschungsprojekte werden vom Film jedoch nicht hinterfragt – dabei liegt hier die eigentliche Brisanz des Themas

von THOMAS BARTH

„Nach nur sechs Tagen mussten wir unser Pseudogefängnis schließen, denn was wir sahen, war erschreckend. Weder uns noch den meisten Versuchspersonen war noch klar, wo ihre Rollen begannen und wo sie endeten. Die Mehrheit von ihnen war tatsächlich zu ‚Gefangenen‘ oder ‚Wärtern‘ geworden und konnte nicht mehr richtig zwischen ihrer Rolle und ihrem Selbst unterscheiden.“ (Philip Zimbardo 1971, „The psychological power and pathology of imprisonment“)

Jeder Psychologiestudent lernt während seines Grundstudiums den Versuch kennen, den der Stanford-Psychologe Philip Zimbardo in den 70er-Jahren durchführte. Erschreckter Forscher bricht aus dem Ruder gelaufenes Experiment ab – im Gegensatz zu diesem Szenario, das die Medien im Zusammenhang mit der Berichterstattung über Oliver Hirschbiegels Film „Das Experiment“ immer wieder und fast immer ohne es zu hinterfragen aufgekocht haben, ist der dem Drehbuch zugrundeliegende Versuch jedoch ein besonders abschreckendes Beispiel für mangelhafte Ethik des psychologischen Forschers. Wissenschaftler befinden sich bekanntermaßen oft im moralischen Zwiespalt, ihre Versuchspersonen im Sinne eines Experimentalaufbaus täuschen oder belügen zu müssen. Philip Zimbardo gilt als Extremist der Hardcore-Fraktion unter den Experimental-Psychologen. Seinen Probanden verabreichte er gerne mal eine Adrenalinspritze, um Angst oder Panik zu untersuchen, und er geizte auch nicht mit Elektroschocks, wenn es um Fragen der Schmerzempfindlichkeit ging.

Oliver Hirschbiegels Film „Das Experiment“ greift auf „Das Experiment Black Box“, Mario Giordanos Krimiadaptation des Stoffes zurück – unter Berufung auf „eine wahre Begebenheit“. Der studierte Psychologe Giordano folgt damit den Spuren des erfolgreichen US-Jugendbuchautors Morton Rhue, dessen Jugendpsychothriller „Die Welle“ ebenfalls auf der „wahren Begebenheit“ eines sozialpsychologischen Versuchs basierte, der 1969 im kalifornischen Palo Alto durchgeführt wurde.

Dort hatte ein Lehrer seine High-School-Schüler zu disziplinierten Mitläufern einer fiktiven, geheimen Bewegung gemacht, die sich „The Wave“ nannte. Im Unterricht war bei der Beschäftigung mit dem deutschen Faschismus die Frage aufgekommen, wie die Nazis so großen Erfolg haben konnten. Der Lehrer beschloss, seiner Klasse eine Lektion zu erteilen und sie zu Teilnehmern eines sozialen Experimentes zu machen. Was als plastisches Beispiel im Sozialkunde-Unterricht gedacht war, entgleiste schnell zu einer dramatischen Übernahme faschistoider Rollenklischees durch die amerikanischen Jugendlichen.

Der immer wieder beliebte mediale Griff in die Gruselkiste „schwarzer Psychologie“ darf natürlich nicht die Verdienste der experimentellen Forschungsrichtung generell in Zweifel ziehen. Ähnlicher Methoden bediente sich zum Beispiel Theodor W. Adorno bei seinen legendären „Studien zum autoritären Charakter“. Im Rahmen der Konstruktion einer F-Skala der Persönlichkeit (F steht für Faschismus) täuschte auch Adorno die Versuchspersonen.

Nicht anders der Faschismus-Forscher Milgram: Er ließ seine Probanden einem angeblichen Opfer im Nebenzimmer Elektroschocks verabreichen. Unter Leitung eines als weiß bekittelter Autoritätsperson auftretenden Forschers sollten die Freiwilligen (ganz normale amerikanische Bürger) die Voltzahl der elektrischen Schläge, die als Bestrafungen in einem angeblichen Lernexperiment erklärt wurden, immer weiter steigern. Wenn die Probanden angesichts von (vorgetäuschten) Schmerzensschreien aus dem Nachbarzimmer Bedenken anmeldeten, beharrte die Autoritätsperson auf einer weiteren Durchführung, behauptete, es sei harmloser, als es sich anhöre, und übernahm jede Verantwortung für den Ausgang der Bestrafung. Unter diesen Bedingungen steigerten die meisten der Versuchspersonen die Stromschläge immer weiter, trotz lauter werdender Schreie des vermeintlichen Opfers. Einige Probanden verabreichten Stromstöße sogar über einen letzten markerschütternden „Todesschrei“ hinweg.

Adorno und Milgram bewiesen mit ihren Untersuchungen unter anderem, dass Autoritätshörigkeit bis zur Mittäterschaft bei der grausamen Misshandlung Wehrloser keine spezifisch deutsche Eigenschaft ist. Vielmehr erwies sich Adornos psychologischem Blick der Autoritarismus als in der Mittelschicht verbreitete Haltung. Er sah sie unter anderem gekennzeichnet von Konventionalität, Unterwerfung unter einen Vorgesetzten oder Führer, Abwehr des Fantasievollen, Neigung zu Aberglauben und Verschwörungstheorie sowie Aggression gegen Abweichler von Gruppenstandards.

Original-Filmaufnahmen von Milgrams Faschismus-Experimenten sind zugänglich. Bilder aus Philip Zimbardos „Pseudogefängnis“ sah man jedoch noch nicht, obwohl die Insassen und Wärter dort zwar heimlich, aber ebenso eifrig gefilmt wurden wie heute die RTL-Container-Stars. Was genau verbirgt sich also hinter dem ominösen Psycho-Experiment, auf das sich Hirschbiegels Thriller bezieht?

Der Stanford-Psychologe Zimbardo strebte auf verschiedenen Wegen nach einer Bestätigung seiner „Theorie der Deindividuierung“. Der Begriff erklärt in der Tradition der klassischen Massenpsychologie das Auftreten moralisch verwerflichen bzw. grausamen Verhaltens durch unter bestimmten Bedingungen nachlassende „Selbstaufmerksamkeit“. Eine Störung der Selbstaufmerksamkeit ergibt sich zum Beispiel aus neuen, unstrukturierten Situationen, unklarer Verantwortungslage, gefühlsmäßiger Erregung, sinnlicher Überreizung (z. B. laute Musik) und Anonymität.

Auf den ersten Blick ähnelt Hirschbiegels Drehbuch tatsächlich Zimbardos berüchtigtem Gefängnisexperiment. Zimbardo zielte auf die Schaffung einer neuen, unstrukturierten Situation mit diffuser Verantwortung der anonymen Wärtergruppe. Deren Ausrüstung bestand aus Uniformen, Schlagstöcken, verspiegelten Sonnenbrillen. Die Kleidung der Gefangenen zielte dagegen auf Demütigung ab. „Jeder Häftling erhielt einen Umhang ... Unterhosen erhielten die Häftlinge nicht (sodass sie in weiblicher Haltung zu sitzen gezwungen waren), aber sie bekamen eine leichte Kette mit Schloss um ein Bein, Gummisandalen und eine Art Nylonstrumpf als Kopfbedeckung, um etwaige Unterschiede in der Haartracht der Häftlinge unsichtbar zu machen.“ So berichtet Peter Watson in seinem Buch „Psycho-Krieg: Möglichkeiten, Macht und Missbrauch der Militärpsychologie“.

Im entscheidenden Gegensatz zu Hirschbiegels Film war Zimbardos Gefangenen jedoch nicht einmal bewusst, dass sie sich in einer Experimentalsituation befanden. Der Stanford-Psychologe hatte 24 normale gutbürgerliche Einwohner von Palo Alto angeworben und per Münzwurf auf die beiden Rollen seines Szenarios verteilt; dann wurden sie nach Hause geschickt. Die zwölf Wärter wurden später teilweise eingeweiht, und auf ihre Aufgabe eingeschworen: die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung unter Anwendung von Mitteln ihrer Wahl, ausgenommen physische Gewalt.

Die zwölf Häftlinge aber wurden später durch die lokale Polizei, deren Hilfe Zimbardo sich versichert hatte, angeblich unter Verdacht eines Raubes festgenommen. Sie wurden wie Verdächtige erkennungsdienstlich behandelt und mit verbundenen Augen vom Streifenwagen im Keller der Stanford-Universität abgeliefert.

Erschreckend war an Zimbardos Experiment nicht nur die wachsende Begeisterung der Wärter für ihre im Verlauf immer aggressiver ausgeübte Tätigkeit, sondern auch die Passivität der Gefangenen, die weder Widerstand noch Solidarität zeigten. Einige versuchten immerhin, ihre Entlassung durch Bitten zu erwirken und verlangten einen Anwalt. Sie wurden vor ein „Tribunal“ unter Vorsitz Zimbardos geführt, das ihnen gnädig eine Prüfung ihres Ansinnens versprach, und ließen sich dann in ihre Zelle zurückführen.

Zimbardo legt Wert darauf, dass die Einsperrung niemals mit Gewalt oder deren expliziter Androhung durchgesetzt wurde, und hält das offenbar für die ethische Grenze wissenschaftlichen Handelns. Der Militärpsychologie-Kritiker Peter Watson bezweifelt jedoch, dass Zimbardos Studie überhaupt auf die Sozialpsychologie des Gefängnisses abzielte. Die beträchtlichen Gelder dafür erhielt die Universität von Stanford nach Watsons Recherchen vom Office of Naval Research, also von der Marineforschung. Viele Merkmale des Zimbardo-Gefängnisszenarios deuten in der Tat eher auf eine Studie zu militärischen Gefangenenlagern bzw. auf Verhör- und Folterforschung – die US-Marine ist für ihre Militärpsychologie berüchtigt.

1975 beispielsweise sprach Watson in Oslo auf einer Nato-Konferenz zu Stress und Angst mit einem US-Militärpsychologen namens Dr. Narut, der auf Versuchsergebnisse zur Bewältigung von „Tötungsstress“ aus war. Auf Nachfragen erklärte Narut dem Kollegen leutselig, es ginge um die Ausbildung von Kommandoeinheiten der Marine, die als Botschaftspersonal getarnt im Ausland illegale Tötungen durchführen sollten.

Erstaunlicherweise übergeht Hirschbiegels Film genauso wie das Gros seiner Kommentatoren den politischen Hintergrund und die zwielichtigen Methoden des Ursprungsexperiments – nur ein Nebensatz des Drehbuchs verweist auf ominöse „Gelder von der Bundeswehr“, fragt aber nicht nach deren Zweck. Stattdessen proklamiert ausgerechnet der zu Abhärtungs- oder Testzwecken eingeschleuste stramme Major der Luftwaffe (Christian Berkel) die Menschenrechtserklärung in die Videokameras der Psychologen, bis die Wärter ihn fesseln und knebeln. Noch dazu wird ausgerechnet der Soldat später zum Retter in der Not für den gemarterten Querulanten Bleibtreu – schöne Imagepflege für die Bundeswehr.

Fazit: Psychologische Forschung wird als solche nicht hinterfragt bzw. auf das allgemein Menschlich-Pathologische reduziert. Dabei wäre die Beschäftigung mit den eigentlichen Auftraggebern und Hintergründen solcher Versuche der weit spannendere, geschweige denn politischere Thrillerstoff.

Der Verfasser ist Autor des Buches „Soziale Kontrolle in der Informationsgesellschaft“, 1997 erschienen im Centaurus-Verlag

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