: Die Trümmer eines Mythos
Der in New York lehrende Soziologe und Historiker Jan Tomasz Gross hat mit seinem Buch über das Pogrom von Jedwabne in Polen eine heftige Debatte über den polnischen Antisemitismus entfacht
von GABRIELE LESSER
Polen steht vor den Trümmern seines Geschichtsmythos. Innerhalb weniger Wochen brach das Selbstbild der Polen vom Opfer der Geschichte, von ihrem heldenhaften Widerstand gegen die Nazis, von der Kollaboration, die es angeblich nie gegeben hat, in sich zusammen. Auslöser der wichtigsten Nachkriegsdebatte Polens ist das Buch „Sasiedzi – Nachbarn“ des in New York lehrenden Soziologen und Historikers Jan Tomasz Gross. In dem demnächst auch in den USA und Westeuropa erscheinenden Buch beschreibt Gross ein Pogrom in dem Städtchen Jedwabne in Nordostpolen.
Mord an 1.600 Juden
Nach dem Einmarsch der Deutschen in die Sowjetunion und die bislang von der Roten Armee besetzten Gebiete kommt es im Juli und August 1941 in ganz Ostpolen zu zahlreichen Pogromen. In Jedwabne, einer Kleinstadt in der Nähe von Bialystok an der Grenze zu Litauen, ermorden christliche Polen ihre jüdischen Nachbarn. Es ist das größte und wohl brutalste bislang bekannt gewordene Pogrom in Polen: Über 1.600 Kinder, Frauen und Männer werden erschlagen, erstochen, zu Tode geprügelt und bei lebendigem Leib verbrannt. Einer jüdischen Schönheit des Ortes wird der Kopf abgeschlagen. Danach spielen die polnischen Männer Fußball mit ihm. Zwei Frauen stürzen sich beim Anblick des Mobs mit ihren Kindern in den See. Die gaffende Menge schreit ihnen vom Ufer aus zu, was sie tun müssen, um zu ertrinken. Die meisten Juden Jedwabnes verbrennen bei lebendigem Leibe in der Scheune eines polnischen Bauern. Deutsche Soldaten stehen daneben und filmen den – wie es später in der Propaganda heißt – „gerechten Zorn der Polen auf die ‚jüdisch-bolschewistischen Unterdrücker‘“.
Noch im Sommer letzten Jahres sah es so aus, als wolle Polen das Buch Jan Tomasz Gross’ und die entsetzliche Wahrheit über Jedwabne totschweigen. Ledigleich die konservative Tageszeitung Rzeczpospolita schickte einen Reporter in das ostpolnische Städtchen, um die Angaben Gross’ zu überprüfen. Doch auch seine Reportagen lösten kein größeres Echo in der Öffentlichkeit aus. Über dem Land lag eine lähmende Stille. Erst als Ende des Jahres die französische Zeitung Libération den Polen vorwarf, sich nicht der Vergangenheit stellen zu wollen, brach die Debatte los. Kein Tag vergeht, an dem die polnischen Medien nicht über das „Pogrom von Jedwabne“ berichten würden.
Auch Adam Michnik, der Chefredakteur der größten Tageszeitung Polens Gazeta Wyborcza, steht unter dem „Schock von Jedwabne“. Fassungslos schreibt er in der Wochendausgabe seiner Zeitung: „Ich bin Pole, und meine Scham für den Mord in Jedwabne ist eine polnische Scham. Zugleich weiß ich aber auch, dass ich selbst – wäre ich damals in Jedwabne gewesen – als Jude ermordet worden wäre.“ Nun fragt er provozierend knapp: „Haben die Polen gemeinsam mit den Deutschen die Juden ermordet?“, und antwortet sogleich: „Es ist schwer, sich etwas Absurderes und ein falscheres Stereotyp vorzustellen.“
Michnik beschwört noch einmal den Mythos herauf, mit Hilfe dessen Polen den Verrat der Westalliierten nach 1945 verkraften konnte. Das Land, dessen Soldaten auf Seiten der Alliierten für eine freie Welt gekämpft hatten, verschwand nach 1945 hinter dem Eisernen Vorhang. Stalin, der zusammen mit Hitler 1939 Polen überfallen hatte, errichtete sechs Jahre später und mit westlicher Billigung seine Herrschaft in Polen. Eine Debatte über die Vergangenheit, wie sie im freien Westen möglich war, konnte in Polen nicht geführt werden. Die Zensur knebelte das Land. So sprach man auch über den im Lande tief verwurzelten Antisemitismus nicht. Das Bild Polens im Zweiten Weltkrieg wurde bestimmt vom heldenhaften Widerstand, von der fehlenden Kollaboration, von den vielen Toten in Dachau und Auschwitz, von Millionen Zwangsarbeitern, von den nach Sibirien deportierten „Klassenfeinden“ der Sowjets und von den tausenden auf Befehl Stalins ermordeten polnischen Offizieren in den Wäldern von Katyn.
Schwere Identitätskrise
Bislang waren die Polen und also auch Michnik davon ausgegangen, dass es im besetzten Polen möglich gewesen sei, „sowohl Antisemit, ein Widerstandsheld gegen die Nazis und Retter der Juden“ zu sein. Michnik führt das berühmte Beispiel der Schriftstellerin Zofia Kossak-Szczukas an, die im August 1942 im Namen der polnischen Katholiken um Hilfe für die Juden bat, auch wenn die Katholiken die Juden weiterhin „als ihre politischen, wirtschaftlichen und ideellen Feinde betrachten“ würden und genau wüssten, dass „die Juden uns noch mehr hassen als die Deutschen und uns für ihr Unglück verantwortlich machen“. Trotzdem bat sie um Hilfe. Alle von außen gegenüber Polen erhobenen Antisemitismus-Vorwürfe, so Michnik weiter, seien bislang als ungerecht zurückgewiesen oder von den tatsächlichen Antisemiten des Landes zur „jüdischen Verschwörung“ erklärt worden.
Das Buch von Jan Tomasz Gross habe alle gleichermaßen in einen Schock versetzt: „Ich muss bekennen, dass auch ich zunächst nicht in der Lage war, dies zu glauben“, schreibt Michnik. „Und doch hat es Jedwabne und das bestialische Pogrom zuvor gegeben. Sie werden nun das kollektive Bewusstsein der Polen belasten. Und auch mein eigenes, individuelles.“
Die Aufdeckung des polnischen Antisemitismus als mörderisch, als Grundlage einer möglichen Kollaboration mit den Nazis, hat nicht nur die katholischen Polen, sondern auch die jüdischen in eine Identitätskrise gestürzt. „Wer bin ich?“, fragt sich Michnik, „warum habe ich als Pole und Jude nicht vorher nach der Wahrheit der ermordeten Juden von Jedwabne gesucht? Habe ich mich unbewusst vor der schrecklichen Wahrheit gefürchtet?“ Wenn er heute dazu aufgefordert werde, als Pole seine Schuld zu bekennen, fühle er sich so verletzt wie die heutigen Einwohner von Jedwabne, die schließlich nicht an dem Pogrom von 1941 beteiligt waren, nun aber vor aller Welt an den Pranger gestellt würden. Umgekehrt wachse aber in ihm das Gefühl der Schuld, wenn er höre, wie das Buch von Gross als Lüge und jüdische Verschwörung gegen Polen verunglimpft werde. „Mit diesen verlogenen Ausreden nämlich werden die damaligen Verbrechen faktisch gerechtfertigt.“ In Polen haben dies in der letzten Zeit insbesondere hohe Vertreter der katholischen Kirchenhierarchie getan sowie Historiker und Publizisten, die sich als Nationalkatholiken verstehen. So sprach der Bischof vom Lomza, Stanislaw Stefanek, in dessen Diözese Jedwabne liegt, in einer Predigt von einer „Provokation“, die eine „Spirale des Hasses“ in Gang setzen solle und bei der es „um viel Geld“ gehe.
Spirale des Hasses
Auch der in Deutschland mit seiner Kritik an der Wehrmachtausstellung bekannt gewordene Historiker Bogdan Musial, der heute am Deutschen Historischen Institut in Warschau arbeitet, hält das Buch Gross’ vor allem für eine Provokation Polens: „Er wollte zeigen, wie schrecklich die Polen sind“, sagte er der konservativen Tageszeitung Zycie. Doch wer „die jüdischen und anderen Quellen“ kenne, könne die meisten Thesen Gross’ als absurd entlarven.
Denn „mit den Methoden, wie sie Gross anwendet, lässt sich beweisen, was man will.“ Norman Finkelstein habe mit seinem Buch „Die Holocaust-Industrie“ gezeigt, wie das Leiden der Juden zu Geld gemacht werde. Dazu gehöre auch eine „moralistische Phraseologie und eine pädagogische Rhetorik“. In ähnlichem Ton hatte sich der Historiker Tomasz Strzembosz, dessen Lebenswerk der Geschichte Ostpolens im Zweiten Weltkrieg gewidmet ist, in der konservativen Zeitung Rzeczpospolita geäußert. Auf zwei Seiten breitete Strzembosz die „verschwiegene Kollaboration“ der Juden mit den Sowjets aus und „erklärte“ so den Mord an 1.600 Kindern, Frauen und Männern in Jedwabne.
Neues Denkmal
Die katholische Kirche in Polen ergriff verhältnismäßig spät das Wort – erst nachdem Staatspräsident Aleksander Kwásniewski angekündigt hatte, dass er sich am 60. Jahrestag des Pogroms in Jedwabne bei den Juden, insbesondere aber bei den wenigen Überlebenden und Nachfahren der Opfer im Namen der Polen entschuldigen werde. Von diesem „politischen Programm“, wie das Oberhaupt der katholischen Kirche in Polen die geplante Geste des Präsidenten nannte, distanzierte sich Primas Jozef Glemp noch am selben Tag. Er lasse sich nicht vorschreiben, wie, ob überhaupt, und wenn ja, wen er um Verzeihung bitten werde, ließ er in einer Predigt wissen. Er erklärte nicht, weshalb er die ganzen Monate zuvor kein einziges Wort über Jedwabne verloren hat. Als Oberhaupt der katholischen Kirche Polens wolle er nicht nach Jedwabne fahren und dort für die Verbrechen der Katholiken an den Juden um Vergebung bitten, vielmehr wolle er gemeinsam mit dem Rabbiner von Warschau und Lodz eine Sühnegebet vor dem Ghettodenkmal, in der Synagoge oder an einem anderen heiligen Ort abhalten. Als „Mitglieder der menschlichen Art“ könne man gemeinsam Gott für die Verbrechen der Menschheit um Vergebung bitten. Als Rabbiner Michael Schudrich später in einem Interview für die katholische Agentur KAI klarstellte, dass er lieber in Jedwabne um die Ermordeten trauern würde – gemeinsam mit dem Primas –, dass aber eine Bitte um Vergebung allein bei Gott zu wenig sei und vielmehr zunächst die Überlebenden und die Nachkommen der Opfer um Vergebung zu bitten seien, verfiel die katholische Kirche Polens wieder in Schweigen.
In Jedwabne selbst versuchen die Einwohner mit dem Ansturm der Journalisten aus aller Welt klarzukommen. Das „Komitee zur Verteidigung des guten Namens“ wurde wieder aufgelöst. Auch der Gedenkstein an den Mord, auf dem die deutschen Besatzer als Täter ausgewiesen waren, wurde entfernt. Inzwischen haben die Arbeiten für ein neues Denkmal begonnen. Es soll an der Stelle der Scheune und des Massengrabes errichtet werden. Längst haben die Jedwabner eingesehen, dass das Leugnen der Tat nur dazu führt, sie erst recht als Schuldige dastehen zu lassen. Die heute in Jedwabne lebenden Menschen aber sind zum größten Teil zugereist oder aber nach dem Zweiten Weltkrieg geboren.
Wie der Trauer- und Gedenktag am 10. Juli 2001 in Jedwabne und in Polen begangen wird, ist unklar. Ob möglicherweise neben dem polnischen Präsidenten der deutsche stehen wird – immerhin wäre es ohne den deutschen Überfall auf die Sowjetunion nicht zu diesem Pogrom gekommen –, ist ebenfalls offen. Möglicherweise wäre es besser, wenn Staatspräsident Johannes Rau nicht in Polen, sondern in Berlin etwas zu Jedwabne sagen würde. Denn würde er am 10. Juli neben Kwásniewski stehen und die Juden um Verzeihung bitten, könnte der Eindruck aufkommen, die Polen hätten im Zweiten Weltkrieg mit den Nazis breit kollaboriert. Das aber ist eindeutig falsch. Adam Michnik schreibt in seinem Artikel, der auch in der New York Times erschien: „Wer versucht, das Verbrechen in Jedwabne aus dem Kontext der Epoche zu reißen, wer versucht, auf der Grundlage dieses Verbrechens zu der Verallgemeinerung ‚Nur die Polen haben sich so verhalten‘ und ‚Alle Polen haben sich so verhalten‘ zu kommen, der macht sich einer genauso schlimmen Lüge schuldig, wie es die über das Pogrom von Jedwabne war.“
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