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Überflüssiger Außenkörper

Was eine Freundschaft mit Carlos Castaneda für Folgen haben kann: Eine Kurzgeschichte von Wladimir Kaminer

Am Wochenende, wenn der Kindergarten geschlossen ist, gehe ich mit meiner Tochter Nicole zum Spielen auf den Arnim-Platz. Wir kommen an der Kneipe „Bärenhöhle“ vorbei, in der kreative Bauarbeiter ein „Bärengedeck“ trinken, eine Mischung aus Bärenpils und Picolo-Sekt. Dann geht es rüber zum Burger- King, dort kriegen wir immer eine Pappkrone und einen Bierbecher umsonst.

Ich weiß nicht viel über Bettina von Arnim, aber der ihr gewidmete Park ist der größte Spielplatz in unserer Umgebung. Viele Kinder laufen dort herum, doch sie spielen ungern miteinander. Und wenn schon, dann will jeder seine eigenen Spielregeln durchsetzen.

Ein rotznasiger Junge zum Beispiel: Er treibt sich ständig auf dem Arnim-Platz herum, nascht von jeder zweiten Blume ein bisschen und kaut die Blätter von allen Büschen. Dann spült er den Mund mit einem Haufen Sand und fängt wieder von vorne an. Seine Eltern wollen oder können ihn nicht daran hindern, sie wissen aber, dass Kinder in dem Alter noch naiv sind und viel bessere Verdauungsmöglichkeiten haben wir, die Erwachsenen. Die Kinder wollen alles selbst ausprobieren, anfassen, in den Mund nehmen, verzehren.

Erst wenn sie älter werden, lesen sie vielleicht mal Carlos Castaneda und lernen, welches Blatt man von welchem Busch zu welcher Jahreszeit essen kann. Bei diesem Thema ist der Erfinder des „Don Juan“ der König. Vor Jahrzehnten hat er bereits die Erfahrung gemacht: Nicht jedes Gräschen gehört in den Mund, und nicht auf jeden Kaktus musst du scharf sein. Nur, wie findet man den richtigen Kaktus? Diese Frage lässt sogar Castaneda unbeantwortet.

Eine Freundin von mir, Katja, die mit ihrem Mann und ihrer Tochter in der Nähe des Arnim-Platz wohnte, studierte Tag und Nacht Castaneda. Dazu probierte sie alle halluzinogenen Drogen aus, die sie bekommen konnte; nicht einmal die Büsche auf dem Arnim-Platz waren vor ihr sicher. Ihr Mann war ein leidenschaftlicher Händler, er kaufte und verkaufte alles, was ihm in die Finger kam.

Seine Verkaufsannoncen in den russischen Zeitungen sahen immer beeindruckend aus: „Verkaufe zwei gebrauchte Kinderfahrräder, eine Einzimmer-Wohnung in Wilna und große Waldflächen in Sibirien“. Einen Großhandel mit Rotem Kaviar hat er auch mal betrieben: „Wer mehr als 100 Kilo Kaviar bei uns kauft, der bekommt eine Packung Elektrobatterien umsonst“, stand in seiner Annonce.

Der Mann war so gut wie nie zu Hause, dafür aber der komplette Castaneda – auf dem Bücherregal. Er wurde zu einem regelrechten Familienmitglied und Gesprächspartner für Katja. Während die anderen nur mit ihren eigenen Problemen beschäftigt waren, hatte Carlos für Katja immer Zeit. Sie wurden dicke Freunde. Später, in der Nervenklinik des Königin-Elisabeth-Krankenhauses, in die Katja dann eingeliefert wurde, fing sie sogar an, Briefe an Castaneda zu schreiben. Er schrieb gemeinerweise nie zurück, rief aber manchmal mitten in der Nacht an. Katja konnte deswegen kaum noch schlafen – wie gebannt starrte sie die ganze Nacht auf das Telefon.

„Lieber Carlos“, schrieb sie ihm eines Tages, „mit deiner Hilfe habe ich andere, bessere Welten entdeckt. Dort habe ich viele interessante Menschen kennen gelernt und spannende Abenteuer erlebt. Nun bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich meinen Außenkörper nicht mehr brauche. Ich will endgültig umziehen. Wäre das für dich ein Problem? Ruf mich bitte an! Deine Katja.“

Carlos rief um drei Uhr nachts an – und war stinksauer auf Katja. Er schrie sie an. Zum Glück war Katja diese Nacht allein auf der Station, die anderen Betten waren gerade frei. „Du blöde Kuh!“, randalierte Carlos durchs Telefon, „du hast noch immer nichts verstanden. Wenn die Verbindung zwischen Innenkörper und Außenkörper unterbrochen wird, wirst du den grünen Nebel nicht mehr sehen können. Dann schaltet sich die Quelle des Geistes einfach ab. Also, du darfst auf keinen Fall umziehen, du Idiotin!“

Katja fühlte sich durch Carlos’ Schimpfwörter beleidigt. „Das werden wir noch sehen“, sagte sie bockig – und legte auf.

Um sechs Uhr kam die Schwester und brachte ihr das Frühstück. Aber Katja war nicht mehr da. Nur ihr etwas verknüllter Außenkörper lag noch neben dem Bett.

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