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Sie lassen Knochen sprechen

Am Tag graben, nachts weinen: Es fällt den Anthropologen nicht immer leicht, wenn sie auf Friedhöfen nach verschollenen Regimegegnern suchen

aus Buenos Aires INGO MALCHER

Die Knochen von A 4/1 sind wie Puzzleteile angeordnet. Ganz oben in der Metallwanne, auf türkisfarbenem Tuch, liegt der Schädel, dann die Wirbelsäule, die Ober- und Unterarme, die Hände mit den fünf Fingern, das Becken, die Oberschenkel, Knie, Schienbein, Füße, Zehen. Jeder einzelne Knochen ist nummeriert und gekennzeichnet. Skelett Nummer 1, gefunden in Grabquadrat A/4. A 4/1 hat keinen Namen – es wurde noch nicht identifiziert.

Patricia Bernardi misst die Größe des Oberschenkelknochens und trägt die Zahl in eine Liste ein. Die 41-jährige Frau gehört zur Gruppe der Forensischen Anthropologen Argentiniens (EAAF). 1984, ein Jahr nach dem Ende der Militärdiktatur, haben sich elf Anthropologen zusammengetan, um die Leichen derer zu suchen, die von den Militärs ermordet wurden.

In dem Büro im Stadtviertel Miserere herrscht eine freundliche Atmosphäre. Große Fenster lassen viel Licht in die Altbauzimmer, es ist aufgeräumt. An den Wänden hängen Anatomieposter, Fotos aus El Salvador, Guatemala und ein Gemälde aus Mexiko: „Hochzeit der Skelette“ heißt es. In den Regalen stehen Ordner. „Leichenfunde in Avellaneda“, „Todesurkunden“, „Fingerabdrücke.“ Auf dem Schreibtisch vor dem Fenster steht ein Computer. Darin gespeichert sind die Basisinformationen zur Identifizierung der Skelette.

In einem fensterlosen Raum stapeln sich Apfelkisten bis unter die Decke. Patricia Bernardi macht das Licht an. „Industria Argentina“ („argentinische Industrie“) steht auf den Kisten. Darin liegen Knochen. Jede Kiste hat eine Kennung. „D 4/Skelett 7.“ Jedes Skelett hat seine eigene Kiste. 356 sind es insgesamt. Fast alle stammen von dem Friedhof von Avellaneda, einer Stadt im Süden der Provinz Buenos Aires.

Jede Leiche wurde im Friedhofsbuch notiert, auch ein Totenschein wurde ausgestellt. Die Bürokratie der Generäle war effizient. Die Opfer wurden als N. N. vergraben. Normalerweise bestattet man so Tote, die auf der Straße gefunden werden. Doch die haben meistens keine Einschusslöcher im Kopf. Bis zum Militärputsch im Jahr 1976 sind fünf Prozent der N.Ns. an Schussverletzungen gestorben. In der schlimmsten Zeit der Repression, in den Jahren 1976 und 1977, war es mehr als die Hälfte.

Bulldozer gegen Beweise

Patricia Bernardi zeigt Fotos von den Ausgrabungen in Avellaneda. In den ersten Tagen nach der Diktatur haben Baufirmen mit Bulldozern die Gräber ausgehoben. Sie brachten die Knochen durcheinander, zerbrachen sie und vernichteten so Beweise. Um die Suche nach Verschwundenen zu systematisieren, lud die Regierung den Gerichtsanthropologen Clyde Snow nach Buenos Aires ein. Als Snow 1984 zum ersten Mal in Oklahoma ins Flugzeug stieg, wusste er nicht, was für ein Land ihn erwarten würde. Er kannte Brasilien, wo er Jahre zuvor die Knochen von Josef Mengele identifizierte. Mit Argentinien verband er lediglich die Heimat von Juan Vucetich, den Erfinder der Identifizierung per Fingerabdruck.

„Es gibt hier einen Yankie, der Leichen exhumieren will und dazu Studenten sucht“, erzählte ein Kommilitone Patricia Bernardi, die damals Mitte 20 war und Anthropologie studierte. Tags darauf trafen sie und andere Studenten sich in der Lobby eines Hotels mit Snow. „Ist noch Fleisch an den Knochen?“, wollten sie wissen. Er beruhigte sie. Trotzdem war die erste Exhumierung ein Schock. „ Es war die längste Grabung meines Lebens, wir fanden Dinge, die ein Archäologe sonst nicht findet, wie Kleidung und Patronenhülsen“, erzählt Bernardi. Snow hat während der Exhumierung angeordnet: Gegraben wird am Tag, geweint in der Nacht.

In Avellaneda nahmen die Anthropologen 1988 die Arbeit auf. Auf einem Areal von 24 mal 12 Metern fanden sie 19 Sammel- und elf Einzelgräber, insgesamt 324 Skelette. Der Teil für die toten Regimegegner war durch eine Backsteinmauer vom Rest des Friedhofs getrennt, Grabsteine wurden dort nicht aufgestellt. Sorgfältig mussten die Skelette mit Pinsel, Spachtel und feinen Messern frei gelegt werden, jeder Knochen wurde mit farbigem Klebeband markiert, um zu kennzeichnen, zu welchem Skelett er gehörte. „Es ist ein komisches Gefühl, man gräbt die Knochen von jemandem aus, der heute so alt wäre wie ich, der vielleicht dieselbe Jeans tragen würde oder dasselbe Hemd.“ Luis Fondebrider, eines der Gründungsmitglieder von EAAF, fährt mit den Händen an seiner Hose entlang, während er spricht. Sein freundliches Gesicht wird ernst, seine Stimme leise. „Ein toter Körper enthällt sehr viele Informationen, die Knochen nur noch wenige“, sagt er.

An der Stelle, wo die Kugel in die Schädeldecke eindrang, hat A 4/1 ein kleines Loch. Wo sie austrat, ist der Kopf zersprungen. Die Splitter mussten zusammengeklebt werden. Eine zweite Kugel traf den linken Unterarmknochen, eine dritte den rechten Unterarm. Knochenstücke sind dabei weggesplittert, Ruß ist nach 20 Jahren noch zu sehen. „Was für eine Stufe der Aggression, wo man doch mit dem ersten Schuss schon tot ist.“ Patricia Bernardi schüttelt den Kopf.

Neben dem rechten Handgelenk liegt ein Nylonband: Das Opfer war gefesselt, als es erschossen wurde. Die Militärs haben ihre Gefangenen entweder ins Meer geworfen oder in gestellten bewaffneten Auseinandersetzungen exekutiert. In der Zeitung stand dann am nächsten Tag: „Zehn Terroristen bei Schießerei getötet.“ Die Anwohner konnten bezeugen, Schüsse gehört zu haben. Allerdings hat immer nur eine Seite geschossen.

Anhand des Knochenbaus kann Patrica Bernardi bestimmen, dass A 4/1 männlich war. Die Wachstumsfugen zeigen, dass er etwa 27 Jahre alt und 1,77 Meter groß war. Er hatte einen hervorstehenden Oberkiefer und eine große Beule an der Stirn. „Das war ein Trauma oder eine Verletzung, das ist wichtig bei der Identifizierung. Die Familie wird ihn daran wiedererkennen“, sagt sie, bevor sie sich an den Computer setzt und einen Suchauftrag eingibt. Nach einem Mann aus dem Großraum Buenos Aires, der zwischen Mai und September 1977 verschwunden ist und die Merkmale von A 4/1 trägt. Der Zeitraum wird mit den Friedhofsbüchern bestimmt. Wenn ein Opfer in Avellaneda liegt, kommt es mit ziemlicher Sicherheit aus einem Kerker in der Nähe. So werden die Möglichkeiten langsam eingegrenzt. Der Computer liefert fünf Ergebnisse. Nach genauer Prüfung der Details bleibt eine Name übrig, der es sein könnte.

Wissen, was wirklich war

Die Familie lebt noch. Sie muss angerufen werden. Wenn sie Fotos oder alte Röntgenbilder besitzt, kann ihr Angehöriger identifiziert werden. Dann werden die Knochen der Familie übergeben, und er wird zum zweiten Mal beerdigt – dieses Mal mit dem richtigen Namen. „Es ist oft eine Erleichterung für die Familien zu wissen, wie und wann ihr Verwandter ermordet wurde. Das Schlimme am Verschwindenlassen von Personen ist, dass die Angehörigen sich Dinge ausmalen, was mit dem Verschwundenen geschieht, ohne zu wissen, was wirklich war“, sagt Alejandro Incháurregui, einer der Anthropologen.

Die Forensischen Anthropologen sind keine normalen Anthropologen. Sie sind Soziologen, Historiker und vor allem eins: Detektive. Es war Clyde Snow, der sagte, dass die Knochen eines Menschen handfeste Beweise über seine Todesart liefern können. Wenn das Blut getrocknet ist, das Fleisch verwest, die Fingernägel zu Staub geworden sind, bleiben die Knochen als die letzten Zeugen übrig.

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