: Fische klappern im Wind
Durchaus nicht jedermanns Sache sind die traditionellen isländischen Speisen wie Grätenbrei oder „hardfiskur“. Trocken- und Stockfisch finden Sie zumindest gewöhnungsbedürftig? Dann warten Sieerst einmal, bis unser Islandexperte Sie in das glibberige Geheimnis des „kæstur hákarl“ eingeweiht hat . . .
von WOLFGANG MÜLLER
Das Meer um Island ist reich an Fisch und anderen Meeresfrüchten. Doch die traditionelle isländische Küche ist sehr bescheiden und für Fremde äußerst gewöhnungsbedürftig. Vor allem Knechte und Bauernsöhne waren es, die mit offenen Booten und primitiven Gerätschaften über Jahrhunderte entlang der Küste den gefahrvollen Fischfang betrieben. Erst Mitte des 18. Jahrhunderts, als die Inselbewohner größere, überdachte Schiffe erhielten, entwickelte sich so etwas wie ein Fischerstand.
Spezielle Konservierungs- und Zubereitungsmethoden spielen in der bäuerlich geprägten Küche Islands eine wichtige Rolle. So sind die Isländer wohl die einzige Nation, die selbst aus Fischgräten ein Gericht herzustellen versteht: In saure Molke eingelegt, werden Kabeljaugräten aufgelöst und so lange gekocht, bis ein dicker Brei entsteht. So zu finden im Ny matreidslubók, dem Neuen Kochbuch von Andrea Nikólina Jónsdóttir aus dem Jahr 1858.
Doch nicht nur die langen Winter und die früher schlechte Fischfangausrüstung haben diese karge Küche hervorgebracht. Auch der Aberglaube hatte daran Anteil. Spezialitäten wie den Seewolf warf man jahrhundertelang wieder zurück ins Meer. Niemand wollte solch hässliche Meeresmonster verspeisen. Irgendwann entdeckten die Isländer dann aber doch die Nouvelle Cuisine. Ein Tiefseefisch mit Riesenkopf und Glubschaugen, einst wertloser Beifang, bekam den schönen Namen Grenadier, galt bald als Delikatesse und wurde zum Exportschlager. Der 1998 verstorbene isländische Literaturnobelpreisträger Halldór Laxness hat diese Wandlung des Monsters zur französischen Delikatesse in seinem Roman „Die Litanei von den Gottesgaben“ mit viel schwarzem Humor beschrieben.
Immer schon stellten die Isländer Trockenfisch, hardfiskur, her. In der 1628 in Basel erschienenen „Cosmographia – Beschreibung der ganzen Welt“ spricht der Gelehrte Sebastian Münster davon, dass die Reichtümer der Insel Island aus gedörrten Fischen bestünden, von denen die Einwohner solche Mengen zusammentrügen, dass sie größer als Häuser seien: „Aus den dörren Fischen machen sie Mehl / darauß sie ihr Brodt backen.“ Zwar wurde aus Trockenfisch in Island nie Brot gebacken, aber da Getreide auf der Polarinsel nicht gedieh, war Brot aus importiertem Getreide eine seltene Speise. Offensichtlich sahen die Besucher vom Kontinent im luft- und windgetrockneten hardfiskur – zumal er vor dem Verzehr mit Butter bestrichen wurde – so etwas wie das Brot der Isländer.
Trockenfisch, auch Hart- oder Stockfisch genannt, gehört auch heute noch zu den feineren Dingen, die auf den isländischen Tisch kommen. Zu seiner Herstellung werden vorwiegend ausgenommener und geköpfter Schellfisch und Kabeljau, in den letzten Jahrzehnten vermehrt Seewolf und Heilbutt genommen. Getrocknet wird während der beginnenden Wintermonate auf großen Holzstellagen. Diese stehen im Freien, oft auf flachen Lavafeldern oder sind in speziellen offenen Gebäuden untergebracht. In der keimfreien, sauberen Luft des Nordens trocknen die Fische innerhalb weniger Wochen so weit aus, dass sie geräuschvoll im Wind klappern. Stockfisch wird so hart, dass er nach alter Tradition vor dem Genuss mit dem Hammer oder einer Keule weich geklopft werden muss.
Eine andere Dörrtechnik besteht darin, dass der geköpfte Fisch ausgenommen, enthäutet, filetiert, auf lange Holzstangen gelegt und später aufgehängt wird. Mittlerweile wird hardfiskur auch mit dem Ventilator in geschlossenen Räumen getrocknet. Nach vier bis sechs Wochen wird er abgehängt und ins Kühllager verbracht.
Schon seit dem Jahr 1300 exportierten die Isländer ihre Spezialität nach Spanien und Italien. Heute reist isländischer hardfiskur bis nach Afrika: Algerien und Nigeria sind die größten Abnehmer. Als beste Sorte gilt hardfiskur aus Schellfisch, sa genannt. Einige Feinschmecker schwören auf steinbítur, den Gefleckten Seewolf, der zum Trocknen mitsamt seiner Haut in vier Zentimeter große Stücke geschnitten wird. Seine Färbung geht ins Gelbe. Er ist fetter und würziger als der reinweiße Schellfisch.
Ein Kilo frischer Fisch schrumpft im Laufe des Herstellung zu leichten 150 Gramm hardfiskur. Nicht zuletzt deshalb ist der Snack ziemlich teuer. Hundert Gramm kosten acht bis zehn Mark. Zum Essen werden Streifen des hardfiskur in Faserrichtung abgerissen und mit Butter bestrichen. Wenn sich die trockenen Fasern im Mund mit Butter und dem Speichel vermengen, ergibt sich allmählich eine delikate, sehr protein-, vitamin- und eisenhaltige Mahlzeit. Der englische Schriftsteller W. H. Auden allerdings hatte nicht so viel Geduld beziehungsweise Speichel und befand in seinen 1937 erschienenen „Letters from Iceland“, die zähere Art schmecke wie Zehennägel, die weichere wie Hornhaut von den Fußsohlen.
Wegen seines hohen Nährwerts ist hardfiskur besonders beliebt als leichter Proviant auf anstrengenden Wanderungen. In nahezu jeder isländischen Küstensiedlung gibt es kleine Familienbetriebe, die die Kunst des Fischtrocknens pflegen. Als besonders wohlschmeckend gilt der hardfiskur von Halldór Mikkaelsonar aus dem Vierhunderteinwohnerort Flateyri an der Nordwestküste. Sein Trockenfisch hält sogar einen speziellen Höhenrekord: Mit einer Himalajaexpedition gelangte er bis auf den Gipfel des Mount Everest. „So hoch ist noch nie ein isländischer Fisch gekommen“, konstatiert Halldórs Frau Gudrun Óskarsdóttir, „jedenfalls nicht zu Fuß.“
Hallgrimur Magnússon heißt der Bergsteiger, ist 33 Jahre alt und lebt in Reykjavík: „Wir haben zwanzig Kilo hardfiskur auf unserer Tour mitgenommen. Er schmeckt immer, selbst wenn man keinen Appetit hat, hilft auch bei Magenproblemen. Für mich ist er so etwas wie ein Candy, eine Näscherei.“
Einzigartig und nur auf Island bekannt ist fermentierter Eishai, kæstur hákarl. Die fingerdicken, milchig weißen Würfelchen aus dem Fleisch des Eishais werden in durchsichtigen Plastikbechern angeboten. Sie sind zu finden in den Vitrinen der Fischgeschäfte und mancher Supermärkte. Für den ausländischen Besucher ist hákarl wegen des extrem durchdringenden Ammoniakgeruchs und der glitschigen, speckartigen Konsistenz nur schwer konsumierbar. Den Isländern gilt er als ausgesprochene Delikatesse.
Den bis zu sieben Meter langen Eishai, aus dessen zäher Haut früher Schuhe gemacht wurden, fangen Fischer im Sommer vornehmlich in den Ost- und Westfjorden. Als einer der ergiebigsten Fangplätze gilt der Nordosten um Vopnafjördur. Früher, als die Bauern mit ihren kleinen Booten in den stürmischen Nordatlantik ausfuhren, galt der Haifang als eine der gefährlichsten Unternehmungen. Das kräftige Tier wurde mit großen Angeln gefangen. Als Köder dienten in Rum getränkte Seehundsköpfe. Heute wird der Eishai vermehrt mit Netzen aus dem Meer geholt.
Aus seinen Bauchseiten werden sechzig bis siebzig Zentimeter lange, faustdicke Stücke herausgeschnitten, die nach alter Tradition einige Monate gewässert, im feuchten Boden und in Flussbetten vergraben werden, bis sie in den Verwesungszustand übergehen. Diese Prozedur ist nötig, um das Ammoniak aus dem Haifleisch herauszubekommen.
Wie lange er vergraben bleibt, scheint das Geheimrezept jedes isländischen Fischers zu sein. Die Angaben schwanken zwischen vier Wochen und mehreren Monaten. Unvorsichtiger Genuss habe früher nicht wenige Menschen das Leben gekostet, berichtet der österreichische Regierungsrat Joseph Calasang Poestion in seinem 1885 erschienen Werk „Island – Das Land und seine Bewohner nach den neuesten Quellen“.
In großen, geschlossenen Plastikboxen reifen heute die ausgegrabenen und auf dreißig mal fünfzehn mal fünfzehn Zentimeter geschnittenen hákarl-Stücke noch einige Zeit vor sich hin, bevor sie aufgehängt und getrocknet werden. Die beita genannten Stücke sollten dann innen eine weiße und außen eine braune Färbung haben.
Die Konservierung und Herstellung des hákarl ist eine Arbeit, die heute einzelne Bauern, Fischer und Privatpersonen als Nebenverdienst verrichten, nicht zuletzt um die alte Tradition zu erhalten. Eine ähnliche Behandlung erfährt auch der Rochen, der edelgefäult zu einer Spezialität namems skata heranreift. Seit drei Jahrhunderten wird hákarl mit dem traditionellen isländischen Kümmelschnaps brennivín, dem „schwarzen Tod“, als Snack verzehrt.
Einzig saltfiskur wird in Island industriell und in großem Umfang hergestellt. Gepökelter Kabeljau wird nach Portugal, Spanien, Italien und Griechenland exportiert. In den Mittelmeerländern ist der bacalao Grundlage unzähliger Gerichte und beliebte Fastenspeise. Robert Agnarsson, Generalsekretär von Sif, eines der größten Exportunternehmen für Salzfisch: „Der saltfiskur liegt hier vierzehn Tage im Salz und wird nach der Verschiffung am Ankunftsort nachgetrocknet.“
In den Jahrhunderten vor der Erfindung des Kühlschranks war der in der Hälfte gespaltene, gesalzene und zum Trocknen auf Steine gelegte Klippfisch wichtiger Exportartikel der Isländer. Als Gegengabe erhielten sie den hoch geschätzten spanischen Rotwein. Robert Agnarsson: „Hierzulande wird wenig saltfiskur gegessen. Es gibt aber ein traditionelles Gericht mit Kartoffeln und Salzfisch, der dann in reichlich Lammfett schwimmt. Eine schwere Winterspeise . . . Na ja, vielleicht ebenso schwer wie Eisbein mit Sauerkraut.“
Selbst der nach Island verbrachte Killerwal Keiko, weltberühmt seit seiner Rolle in dem Film „Free Willy“, scheint Geschmack an zubereitetem isländischem Fisch zu haben. Der seit fast zwanzig Jahren in Menschenobhut lebende Wal weigert sich nach wie vor, frischen, lebenden Fisch zu jagen, und muss täglich mit hundert Kilogramm vorgeschlachteten Lodden und Heringen gefüttert werden. Seine Auswilderung gilt schon jetzt als gescheitert.
Bezugsadressen für hardfiskur: Hardfiskverkun Halldór Mikkaelsonar, 425 Flateyri,Fon +35 44 56 78 48;Unnur Ehf Fish, Fjardagata 46, 470 Thingeyri, Fon +35 44 56 81 21WOLFGANG MÜLLER, 42, lebt als Autor, Künstler und Islandexperte in Berlin und Reykjavík
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